Von wegen Erfahrung ist alles. Die 22-jährige Caroline Rehoff Pedersen aus Dänemark hat auf ihrer 14-jährigen Holsteiner Stute Calvin  den 160. fehlerfreien Ritt über den legendären Derbyparcours geschafft, wenig später ließ der 21-jährige Sachse Marvin Jüngel auf seiner vierzehnjährigen Stute Balou’s Erbin die 161. Nullrunde in der 123-jährigen Derbygeschichte folgen. Im Stechen hatte der junge Mann aus Kamenz fehlerfrei in 56,67 Sekunden die Nase vorn. Die junge Dänin mit ihrem Calvin brauchte – ebenfalls fehlerfrei – 57,70 Sekunden. Nur  ein Zeitfehler trennte die beiden. 25 000 in Klein Flottbek umjubelten Sieger und Platzierte, als handele es sich um ein olympisches Finale.

Das war, gar keine Frage, eine Werbung für unseren Sport. Gänsehaut pur. Dabei begann das Derby 2023 zunächst einmal nicht sehr verheißungsvoll: Von den 32 Finalisten erreichten nur 23 das Ziel. Maren Hoffmann als erste Reiterin und ihre Stute La Nessa schieden aus. Auch der zweite Reiter, Ralf-Werner König auf Cashwell. Kein gutes Omen. Kai Rüder, der erfahrene Buschreiter von der Insel Fehmar, legte auf dem 18-jährigen Cross Keys einen Acht-Fehler-Ritt vor. Starker Auftritt. Hilmar Meyer und sein Karamell aus Morsum auf Sylt schieden auch aus. Unterm Strich gaben sechs Paare auf, drei schieden aus. Auch solche, die man zu Kreis der Favoriten gezählt hatte: etwa Denis Lynch und Shane Breen, die beiden erfahrenen Iren.

Die uralte Phrase, das Derby habe nun mal seine eigenen Gesetze – es bewahrheitet sich am Nachmittag einmal mehr. Beispiel: Cassandra Orschel, die strahlende Siegerin des Vorjahres, fand mit ihrer Dacara keinen Rhythmus, hatte aus meiner Sicht ein viel zu scharfes Gebiss eingeschnallt, gegen das sich ihre Stute vehement wehrte. Aufgabe! Erstaunlich und deshalb hier vermerkt: Simon Heineke ritt den 15-jährigen Cirdillo, das Siegerpferd von Nisse Lüneburg aus dem Derbyjahr 2019, mit vier Punkten ins Ziel. Toller Auftritt. Ebenfalls nur vier Punkte bekam der 20-jährige Schimmel Kokolores unter Jan Peters. Am Ende Platz sieben und 6120 Euro Prämie.

Ein unbeschreiblicher Jubel begleitete die krasse dänische Außenseiterin Caroline Rehoff Pedersen auf ihrem Calvin, gecoacht von ihrem Landsmann Lars Bak Andersen. Der springgewaltige Holsteiner war mir bereits am Freitag in der zweiten Qualifikation aufgefallen, allerdings als ziemlich eigenwillig und nur schwer zu regulieren. Seine Reiterin machte mir den Eindruck, als würde sie wegen mangelnder Kondition vor Schwäche zu Boden sinken. Pustekuchen: die 160. Nullrunde der Derbygeschichte! Chapeau! 1933 hatte Harald Momm die erste Nullrunde hingelegt.

Die Kenner der nord- und ostdeutschen Springsportszene hatten Marvin Jüngel aus Sachsen auf ihren Zetteln – der junge Mann, schnörkellos im Sattel, ausgestattet mit einer springewaltigen Stute, schaffte wenig später die 161. Nullrunde. Der Traum von Janne Friederike Meyer-Zimmermann, es möge ein Stechen zwischen drei Amazonen geben, erfüllte sich nicht. Sandra Auffarth kam mit einem Klötzchen ins Ziel, wurde am Ende Vierte, bekam 15 300 Euro. Ihr heißer Traum vom großen Sieg – eine Fata Morgana. Immerhin fünf Pferde kamen mit nur jeweils einem Abwurf über die Linie. Kompliment! Andre Thieme eroberte einmal mehr die Herzen seiner Fans: Acht Punkte nur mit seinem erst neunjährigen Paule, Platz acht, 4590 Euro Prämie.

Für seinen Derbysieg, der Marvin schon in jungen Jahren unsterblich macht, erhielt die Familie Jüngel 38 250 Euro Siegprämie. Für die dänische Familie Rehoff gab’s 30 600 Euro. Insgesamt war das Derby mit 153 000 Euro dotiert – so viel wie noch nie zuvor. Oder sagen wir mal so: Möglicherweise war die Dotierung zu den alten D-Mark-Zeiten noch höher, gemessen am damaligen Geldwert. Wem der Stilpreis zugesprochen wurde, dotiert mit 10 000 Euro, lässt sich zu dieser Abendstunde (noch) nicht ermitteln. Das reiche ich morgen gerne nach.

Mein Letzter Blick zurück: Das 63. Dressurderby mit Pferdewechsel gewann die 37-jährige Andrea Timpe aus dem rheinischen Hattingen. Wirklich schade, dass das Dressurfeld geradezu peinlich schmal ausfiel. Turnierchef Volker Wulff möchte 2024 ein stärkeres Feld präsentieren. Hoffen wir mal, dass ihm dies gelingt. Wenn nicht, muss er die Dressur wohl oder übel aus dem Programm streichen.

Alles in allem kamen 93 000 Zuschauer zu den Derbytagen. Kein Zweifel, die Norddeutschen wollen Pferdesport sehen, besonders gerne auf dem geschichtsträchtigen Derbyplatz in Klein Flottbek, unweit der Elbe. Wer’s nochmal ganz genau studieren möchte, dem empfehle ich www.Longinestiming.com/Equestrian

Einen schönen Abend noch aus Stuttgart, wo man heftig hofft, dass „unser“ VfB nach dem 4 zu 1 in Mainz den Klassenerhalt doch noch schafft.