„Ich hatte mir vor dem Stechen überlegt, einen kürzeren Weg einzuschlagen – mit dem Risiko, enger auf das nächste Hindernis zu kommen. Das ist mir geglückt. Mein Pferd ist die ganze Woche hier sehr gut gesprungen. Jetzt bin ich einfach überwältigt.“ Der 28-jährige Gerrit Nieberg vom Gut Berl in Münster, wo er mit seinem Vater Lars auf der Anlage von Hendrik Snoek lebt und arbeitet, lässt mit dem elfjährigen Westfalen Ben die gesamte Prominenz hinter sich – 40 000 in der ausverkauften Soers bieten im stehende Ovationen. Es ist die herausragende reiterliche Leistung des „Tschio“ 2022. 

Ehrlich gesagt, der mit allen Wassern gewaschene Brite Scott Brash und sein Hello Jefferson sahen nach einem Ritt im Renngalopp für viele wie der sichere Sieger aus. Viele im weiten Rund hatten Daniel Deusser die Daumen gedrückt, mit seiner Killer Queen heute eine Million zu gewinnen: 500 000 für den Sieg, weitere 500 000 als Bonus im Rolex-Grand-Slam. Aber es kam anders: Daniel mied das allerhöchste Risiko, nahm seine Stute vor dem Schlussoxer etwas zurück – am Ende „nur“ Rang vier und 150 000 Euro Preisgeld. Dritter wurde der Belgier Nicola Philippaerts mit Katanga; er bekam 220 200 Euro Preisgeld.

Topfavorit McLain Ward, der Seriensieger der Woche, hatte als erster Reiter im Stechen die Pflicht, etwas vorzulegen, um die Konkurrenten unter Druck zu setzen. Doch es gab einen Abwurf, was dem Amerikaner höchst selten passiert. Rang fünf für ihn und seinen Azur sowie 90 000 Euro. Rang sechs für Christian Ahlmann, der seinen Dominator ungeschickt aus der Wendung ritt und in der zweiten Runde einen Abwurf hinnehmen musste: „Das geht klar auf meine Kappe!“ Trostpreis 60 000 Euro.

Im Großen Preis von Aachen, seit 1927 ausgeritten, sah heute mit Gerrit Nieberg den 37. deutschen Sieger. Im Feld starteten an diesem Sonntag 15 deutsche Springreiter – so viele wie wohl noch nie. Mario Stevens, der neue Deutsche Meister, wurde elfter. 17. war Philipp Weishaupt, der mit auf der Ehrentafel steht. 19. Christian Kukuk aus dem Stall Beerbaum. 20. Tobi Meyer. 25. Jana Wargers, die ihre Form aus dem Nationenpreis nicht mehr bringen konnte. 27. Europameister Andre Thieme nach einem unnötigen Fehler im Umlauf. 29. Ludger Beerbaum, der den GP in der Soers dreimal gewonnen hat. Heute vielleicht sein letzter Auftritt auf dieser Bühne. 30. Janne Friederike Meyer-Zimmermann, deren Pferd etwas müde wirkte. 34. Katrin Eckermann. Marcus Ehning hatte den Start um einen Platz verpasst.

Eine tollen Job machte bei seinem 23. Auftritt in der Soers der Parcoursbauer Frank Rothenberger. Dickes Kompliment. Internationales Niveau – nicht nur heute im Großen Preis. Über die Linienführung im Stechen habe er lange nachgedacht, sich dann für die riskante entschieden: „Ich glaube wir hatten heute das schnellste Stechen in der Geschichte des Großen Preises.“

Das Neueste zum Schluss: Nach der Pressekonferenz sagt mir Peter Hofmann, der Vorsitzende des Springausschusses: „Gerrit hat die ganze Woche herausragend geritten, sein Sieg heute ist für mich kein Zufall. Er hatte einen konkreten Plan, ließ sich durch die Zuschauer nicht ablenken. So einen Reiter brauchst du bei einer Weltmeisterschaft!“ Die Botschaft ist klar: Gerritt Nieberg kommt auf die Longlist für Herning. Das finde ich richtig und angemessen.

Guten Abend aus der Soers.