Ich weiß nicht, wie’s Ihnen geht, liebe Leserin, lieber Leser – die mit Abstand schönste Pferdegeschichte dieser Saison 2021 spielt, jedenfalls für mich, am 3. Oktober auf der weltberühmten Galopprennbahn von Paris-Longchamp: Beim 100. Prix de l’Arc de Triomphe sitzt der nur Experten bekannte Jockey Rene Piechulek aus Dessau auf einem Hengst namens Torquator Tasso.

Moment mal. Torquator Tasso? Da stimmt doch was nicht! Komisch. Wenn ich mich als ambitionierter Bildungsbürger so recht erinnere an meinen Goethe, und wenn ich noch mal flott nachschaue im digitalen Lexikon – richtig: Torquato Tasso heißt das Theaterstück, das Johann Wolfgang von Goethe 1790 herausgebracht hat – 1807 wurde es in Weimar uraufgeführt.

Es geht, kurz und knapp gesagt, um das Leben und um das literarische Schaffen des italienischen Dichters Torquato Tasso (1544 bis 1595). Von ihm sei hier und heute diese kurze Lebensweisheit zitiert:

„Frei will ich sein im Denken und im Dichten. Im Handeln schränkt die Welt genug uns ein.“

Schön gesagt, durchaus politisch zu verstehen!

Zurück nach Longchamps, zurück zum Jockey Rene Piechulek und zurück zum Fuchshengst Torquator Tasso. Tja, längst haben Sie’s bemerkt: Der Name des Hengstes hat ein „r“ zu viel. Eine Bildungslücke? Mitnichten. Die Besitzerin Helga Endres gesteht in einem ihrer vielen Interviews: „Bei der Namensänderung ist versehentlich dieses ,r‘ zu viel hineingerutscht!“ Nun, das Pferd hieß ursprünglich „Tijuan Hilleshage“ – man glaubt es kaum.

Wer kommt denn auf so etwas? Furchtbar. Aber jetzt kommt’s noch besser: Bei der Herbstauktion 2018 in Baden-Baden erwirbt das Ehepaar Helga und Peter Michael Endres diesen Eineinhalbjährigen für schlappe 24 000 Euro.

Dem Ehepaar und ihrem Partner Karl-Dieter Ellerbracke gehört das Vollblutgestüt Auenquelle in Ostwestfalen. Der sensationelle Sieg im 100. Arc, wie man kurz und knapp sagt, bringt eine Siegprämie von sage und schreibe 2,857 Millionen Euro! Auf der Zielgeraden lassen Rene Piechulek und Torquator Tasso bei ihrem Debüt den 13 Konkurrenten keine Chance, zeigen einen unwiderstehlichen Sprint in recht tiefem Geläuf – „eine halbe Länge“, so heißt der Zieleinlauf.

Die Reporter auf der Bahn und vor den Mikrofonen überschlagen sich, sie schreien, jubeln, toben, schnappen nach Luft – es scheint, als würde der eine oder andere glatt ersticken. Nicht zu glauben.

Dann steht Rene Piechulek die meiste Zeit in den Bügeln, reckt die Arme in die Höhe, stammelt etwas halb auf Englisch, halb auf Deutsch in die Kameras und Mikrofone. Sein Trainer Marcel Weiß ist völlig überwältigt, bitte Leute in seiner Umgebung auf die Reporterfragen zu antworten, „denn mein Englisch ist ja nicht so gut“. Der Wahnsinn.

Blicken wir kurz in die Annalen des Prix de l’Arc von Paris: Es gibt ihn seit 1920, jeweils am ersten Sonntag im Oktober. Damals feierte man in Paris das Ende des Ersten Weltkriegs. Nur dreimal galoppierte ein Pferd aus deutschen Farben als erstes über die Ziellinie: 1975 war es Star Appeal unter Greville Starkey, 2011 die Stute Danedream unter Andrasch Starkey und 2021 also Torquator Tasso unter Rene Piechulek.

Die beste Nachricht kommt zum Schluss: Besitzer und Trainer von Torquator Tasso haben beschlossen, ihren vierjährigen Fuchshengst noch nicht in die Zucht zu geben, sondern ihn noch ein Jahr laufen zu lassen: Im Oktober 2022 soll er beim 101. Arc seinen Titel verteidigen! Tolle Geschichte.