Das Quellental im Hamburger Nobelvorort Klein Flottbek ist eine der allerbesten Adressen im internationalen Springsport. Mehr Geschichte geht nicht. Seit 1920 wird auf dem längst legendären Grasgeläuf das Deutsche Springderby ausgetragen. Kommenden Sonntag zum 92. Male. Bis heute sind nur 159 Reiter fehlerlos ins Ziel gekommen, darunter fünf Frauen. Der passionierte Jagdreiter Eduard Pulvermann hat diesen kaum veränderten, typisch holsteinischen Parcours entworfen. Inzwischen trägt das Derby den Charakter einer nord- und nordostdeutschen Meisterschaft. Mein Blick in die Historie hinterlässt in mir eine bittere Stimmung.

Wer war dieser Eduard Pulvermann, geboren in Hamburg am 2. September 1882? Die Annalen schildern ihn als einen ehrbaren Kaufmann der alten Hansestadt, als einen passionierter Jagd- und Rennreiter. Auf einer Wiese unweit der Elbchaussee rief er 1920 ein Springturnier ins Leben, kreierte dafür einen Parcours, der der Landschaft seiner holsteinischen Heimat nachempfunden war. Das Hindernis Nummer 14 trägt den Namen „Pulvermanns Grab“ – dort soll er einmal zu Fall gekommen sein.

Seit ewigen Zeiten heißt es, der Derbykurs sei der schwierigste Parcours der Welt. Wobei festzuhalten bleibt, dass dieser Kurs im Laufe von mehr als hundert Jahren durchaus einige Veränderungen erlebt hat. Heute, ganz aktuell, heißt es in der offiziellen Ausschreibung, er sei 1250 Meter lang. Als der unvergessene Fritz Thiedemann 1979 sein großartiges Buch „Das Springpferde“ herausgebracht hat in der Edition Haberbeck, nannte er 1350 als Meter Länge. Bemerkenswert. Dass man vor Jahren – nach einigen schweren Stürzen – den Buschoxer entschärft hat, dürfte allgemein bekannt sein.

Blenden wir kurz zurück in das Gründungsjahr 1920. 27 Pferde liefen im allerersten Derby. Der Frankfurter Paul Heil, dessen Namen niemand mehr nennt, schaffte einen Dreifachsieg mit seinen Pferden Cyrano, Hexe und Grey Lad. Heil betrieb in Frankfurt einen der führenden Springstalle jener Zeit.

Erst 1933 berichtet die Chronik vom ersten fehlerlosen Ritt: Harald Momm siegte auf Baccarat! 1899 in Trier geboren, war Momm ein Schüler der Kavallerieschule Hannover; während der Nazizeit erwies er sich als Opportunist. Als Oberst der Wehrmacht beschwor Momm in einem Buch über die glanzvollen deutschen Springreiter den Endsieg. In der Endnazifizierung blieb er unbehelligt. 1979 starb er in München.

Was wurde aus Eduard Pulvermann? Vor seinem einstigen Wohnhaus in Eppendorf, Geffeckenstraße 15, erinnert ein „Stolperstein“ des Kölner Künstlers Gunter Demnig an sein Schicksal: Weil Pulvermann aus einer jüdischen Familie stammte, wurde er nach dem sogenannten Heimtückegesetz 1941 von der Gestapo verhaftet: Man warf ihm Devisenvergehen vor, doch in Wahrheit ging es den NS-Schergen um die Verfolgung jüdischer Menschen. Pulvermann wurde in das KZ Fuhlsbüttel gebracht, das zum KZ Neuengamme gehörte. Durch die unmenschliche Haft schwer erkrankt, kam Pulvermann im April 1944 ins Gefängnislazarett Langenhorn, wo er am 9. April 1944 gestorben ist.

Zu den Derbysiegern in finsterster Zeit zählt Hermann Fegelein, Jahrgang 1906. Der gebürtige Ansbacher war ein hochtalentierter Springreiter, der auch Galopprennen bestritten hatte. Die NS-Geschichte nennt ihn einen rücksichtslosen Karrieristen. 1937 gewann er das Hamburger Derby auf einem Wallach namens Schorsch. Fegelein war Mitglied des 17. Bayerischen Reiterregiments, später trat er der SS bei, wurde nach seinem Derbysieg zum „Führer der SS-Hauptreitschule München“ ernannt. Sein Bruder Waldemar, Derbysieger von 1939, wurde dort sein Stellvertreter. Beide führten später im Weltkrieg die „SS-Reiterstandarten“ unter dem Namen „Totenkopf“; die Geschichte des Zweiten Weltkriegs weist den Gebrüdern Fegelein die systematische, unvorstellbar grausame Ermordung von 40 000 jüdischen Männern, Frauen und Kindern zu.

Hermann Fegelein heiratete am 3. Juni 1944 Margarete Braun, die Schwester von Hitlers Lebenspartnerin Eva Braun. Am 29. April 1945 wurde er in seiner Berliner Wohnung unter dem Verdacht der geplanten Fahnenflucht verhaftet. Man hatte ihn mit einer hohen Geldsumme angetroffen.  Adolf Hitler gab den Befehl, Fegelein zu degradieren – wenig später wurde er erschossen. Wer genau den Befehl dazu gab, ist unter Historikern umstritten.

Es fällt schwer, vor diesem furchtbaren Hintergrund zum 92. Derby unserer Tage zurückzukehren. Gleichwohl halte ich die unbequeme und belastende Erinnerung für ungemein wichtig. Das populäre Springderby in Hamburg spiegelt auch den dunkelsten Teil unserer deutschen Geschichte zwischen 1933 und 1945 wider. Gerade heute, da es immer mehr Versuche gibt, unsere Demokratie verächtlich zu machen, muss der gesamte Sport seine Verantwortung ernst nehmen und sich immer wieder aufs Neue den Herausforderungen stellen. Der Sport, gerade auch der Sport mit den Pferden, darf sich nicht wegducken. Wer aus der Geschichte nichts lernt, der ist dazu verurteilt, dass sie sich wiederholt.

P.S. Das deutsche Springderby, der schwerste Parcours der Welt – er ist für uns im doppelten Wortsinn ein schwieriges Erbe.