So leicht bekommt man diese Bilder nicht aus dem Kopf: Tim Honold (21) und sein erst neunjähriger Jack Daniels in der zweiten Qualifikation zum 92.Deutschen Springderby.  Dem niederländischen Wallach fehlt’s an Rittigkeit, über weite Strecken entzieht er sich den Hilfen seines Reiters. Am Aufsprung zum Großen Derbywall hat Tim Honold kaum noch Einwirkung, kann sein Pferd nicht zum Schritt durchparieren – es springt kopflos in die Tiefe! Den Zuschauern stockt der Atem, Carsten Sostmeier, dem erfahrenen ARD-Kommentator, platzt der Kragen. Wir sind uns einig: Tim Honold hat sich und seinem Pferd zu viel zugemutet, sich und sein Pferd ohne Not in Lebensgefahr gebracht.

Heute, zwei Tage danach und nur wenige Stunden vor dem Start zum Springderby 2023, geht mein Blick zurück zum vergangenen Freitag: 51 Pferde waren zu dieser zweiten Qualifikation zugelassen, acht Paare waren ausgeschieden, einer hatte aufgegeben. Auf der aktuellen Startliste zum Derby finden wir nurmehr 32 Pferde und Reiter*innen. Für meine Begriffe ist das ein Missverhältnis. Turnierchef Volker Wulff und sein Team kommen nach diesem Freitag nicht umhin, den Einstieg in die Qualifikationen zum Derby kritisch zu überdenken, ja sie noch deutlich strenger zu fassen.

Schauen wir auf das Ergebnistableau, so sehen wir: Über den neun Pferden, die ausgeschieden waren, finden sich weitere sechs Pferde mit 16 Strafpunkten und mehr; die letzten drei haben im Ziel 20, 28 und 43 Strafpunkte. Das ist zu viel: Eine ganze Reihe von Pferden, für meine Begriffe zu scharf gezäumt, wehrten sich durch Kopfschlagen gegen die Reiterhand. Immerhin neun Pferde gelangten fehlerfrei ins Stechen. Andre Thieme, der Europameister, gewinnt verdient mit seinem 15-jährigen Contadur, freut sich über 13 250 Euro Siegprämie. Minuten später erweist er sich als Horseman, erläutert im Fernsehen, für jeden nachvollziehbar, weshalb er seinem Pferd den Derbykurs erspart. Ob er seinem erst neunjährigen Paule heute Nachmittag einen Gefallen tut, werden wir sehen.

Springreiten vom Feinsten haben wir gestern gesehen beim Großen Preis von Hamburg, mit 300 000 Euro gesponsert vom Schweizer Uhrenkonzern Longines, obwohl die Hamburger, wie man weiß, ja aus der Longines Global Champions Tour ausgestiegen sind. Die Prestigepolitik der eidgenössischen Uhrenmanufaktur ist eindeutig: Man möchte gegenüber der Konkurrenz von Rolex am liebsten keinen Meter Boden preisgeben. Das kommt dem weltweiten Springsport zugute. Bleibt zu hoffen, dass es uns mit Longines und Rolex nicht eines Tages so ergeht wie dem demokratischen Westen mit den Gaslieferungen eines Herrn Putin aus Russland.

Die herausragende reiterliche Leistung dieses Samstags zeigte uns Gerrit Nieberg mit seinem jetzt zwölfjährigen Ben. Der Aachen-Sieger von 2022 ließ im Stechen seine tolle Taktik aus der Soers aufblitzen, ritt mutig-berechnend nach vorne, riskierte viel – aber nicht zu viel. Für seinen Vater Lars und Hendrik Snoek, die beiden Besitzer seines Pferdes, gab’s 75 000 Euro Siegprämie. Olympiasieger Ben Maher, nach langer Verletzungspause wieder auf der schnellen Piste, bekam für den zweiten Platz auf Dallas 60 000 Euro. Eigentlich war ja Philipp Weishaupt mit seinem Coby, ebenfalls nach Verletzungspause wieder auf der Piste, der Schnellste – ein Abwurf aber, der ihm immer mal wieder passiert, ließ ihm nur Platz fünf (21 000 Euro).

Das Besondere am Deutschen Springderby ist ja seit Jahr und Tag der Überraschungsmoment. Dieses Springen auf dem längsten Parcours, den der Springsport weltweit kennt, unterliegt seinen eigenen Gesetzen. Nicht selten gewinnt ein Paar, das niemand auf dem Zettel hatte. Vielen Siegerinnen und Siegern kommen am Ende die Tränen, weil sie nie und nimmer mit dem Siegerkranz gerechnet hätten. Das wird womöglich heute wieder so sein – wir wissen es nicht.

Ich nenne mal den Kreis meiner Favoriten: Shane Breen, Sandra Auffarth, Williem Whitaker, Denis Lynch, Pato Muente (Sieger von 2017), Kai Rüder, Harry Charles, Carlos Ribas. Eigentlich könnte man ja alle 32 nennen, denn das Derby im feinen Klein Flottbek hat schon viele unsterblich gemacht. Womöglich gilt das auch für Tim Honold, der am Freitag so schrecklich spektakulär ausgeschieden ist. Dabei hatte er, wenn ich es recht sehe, noch Glück im Unglück. Seinen Ritt wird er im Leben nicht vergessen. Ich gehe fest davon aus, dass er für sich und seine Reiterei die richtigen Schlüsse ziehen wird.