Hier und heute stelle ich an meine Leserinnen und Leser die 100 000-Dollar-Frage: Was haben der Tango aus Argentinien, der Samba aus Brasilien, die Lipizzaner aus Wien und die Falknerei in den unendlichen Wüsten des Orients gemeinsam? Antwort: Sie alle zählen zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit! Gut so. Alsbald kommt unsere „Klassische Deutsche Reitlehre“ hinzu. Auch gut so?

Von Natur aus und von Berufs wegen bin ich ziemlich neugierig. Mir gefällt das Stichwort vom lebenslangen Lernen. Also las ich dieser Tage mit Interesse diese kurze Nachricht aus der FN-Zentrale in Warendorf: „Jetzt wurde die Klassische Reitlehre in Deutschland auf Initiative der Bundesvereinigung der Berufsreiter (BBR) ins Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen. Das wurde der Bundesvereinigung jetzt vom Fachkomitee Immaterielles Kulturerbe der Deutschen UNESCO-Kommission mitgeteilt. Die feierliche Übergabe der Urkunde findet Ende Juli in Potsdam statt.“

Und weiter: „Die Intention für diese Bewerbung, die von den Deutschen Landgestüten und der FN unterstützt wurde, war der Wunsch, das Jahrhunderte alte Wissen rund um das Kulturgut Pferd in der Geschichte des Menschen zu bewahren. Es geht dabei um die zeitlose Ausbildung von Pferd und Reiter nach den klassischen Grundsätzen und um die Ausbildung als Jahrhunderte alte Handwerks- und Kunstform, welche regional, national und inzwischen auch international fast in der gesamten Welt betrieben wird, und auf welcher der weltweit einzigartige Berufsstand der Berufsreiter basiert.“

Die meisten Leute wissen, was das Weltkulturerbe der UNESCO bedeutet: Burgen und Schlösser, legendäre Klöster und uralte Stadtquartiere, der Eiffelturm und die Pyramiden am Nil. Sie sollen unbedingt erhalten und keinesfalls im Krieg zerstört werden. Was sich allerdings verbirgt hinter dem Stichwort „Immaterielles Kulturerbe“, das kann nicht jeder aus dem Stegreif beantworten. Ich hab‘ mich schlau gemacht: Seit 2008 gibt’s diese Liste, hinter der eine Konvention steht, unterzeichnet von mehr als 180 Staaten. Deutschland ist dem erst 2013 beigetreten, mischt aber inzwischen kräftig mit.

Wichtig zu wissen: Zunächst einmal gilt es, in das nationale Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen zu werden. Das ist der erste Schritt – um allerdings auf Augenhöhe zu gelangen mit dem Tango, dem Samba, der Peking-Oper, der Falknerei, der Parfümherstellung im französischen Grasse, der Geigenbaukunst im italienischen Cremona, den Lipizzanern oder dem traditionellen Reiterspiel „Kok-boru“ in Kirgisistan, dauert es wohl noch eine Weile. Wir müssen uns also in Geduld üben: Die kubanische Art, Rum herzustellen, ist auch erst 2022 in die weltweit geltende Kulturerbeliste aufgenommen worden. Die berühmte „Echternacher Springprozession“, also „ein Schritt vor, zwei Schritt zurück“, gehört seit 2010 dazu, übrigens für Luxemburg.

Dabei möchte ich meine stets aufgeschlossene Leserschaft hinweisen auf Mexico: die Charreria-Pferdetradition zählt seit 2016 zum Welterbe. Ebenso das Festival „Pferd und Kamel Ardha“ aus dem Oman. Natürlich die Baseler Fasnacht. Nicht zu vergessen die Spanische Hofreitschule in Wien, in der allerdings seit Jahren ein haarsträubender Intrigantenstadel inszeniert wird, der den guten Ruf dieses Welterbes an den Rand des Abgrundes führt.

Noble Damen, denen als Hobbyreiterinnen die hippologische Sachkunde fehlt, haben systematisch wichtige Oberbereiter und andere interne Kritiker vergrault und hinausgeekelt. Deshalb schlage ich vor, dass das Welterbe-Komitee darüber nachdenkt, Institutionen, die ihren Status systematisch ruinieren, von der ehrenvollen Liste zu streichen. Beim spanischen Flamenco und der Mittelmeerküche sind derlei kritische Überlegungen gewiss nicht notwendig.

Nun zu uns selbst und zu der Frage: Ist es gut und richtig, die klassische deutsche Reitlehre mit dem Etikett „Immaterielles Kulturerbe“ zu krönen? Ja und nein. Der Reiterei weht ein kalter Wind entgegen – übrigens nicht nur in Deutschland. Also erscheint es mir durchaus sinnvoll, dass wir uns selbst immer wieder der klassischen Regeln und Lehren erinnern, sie in der täglichen Arbeit und dem Umgang mit den Pferden hochhalten und beherzigen. Im Alltag ist das fürwahr kein leichtes Unterfangen. Dazu gehört für mich, dass wir den Regelverstößen hart und konsequent entgegentreten. Mir scheint, dass der blanke Kommerz rund um die Pferde sich mitunter wenig schert ums kulturelle Erbe.

Eine kritische und selbstkritische Diskussion darüber, welche Pflichten uns eigentlich erwachsen, wenn wir uns selbst für bedeutend halten im Sonne eines kulturellen Welterbes, halte ich für sinnvoll, ja für notwendig. Denn im Logo des Immateriellen Kulturerbes stehen auch drei Begriffe, die man nicht übersehen darf: „Wissen. Können.Weitergeben.“ Sind wir da wirklich über jeden Zweifel erhaben?