Heute ist ein historischer Tag – nein, ein historischer Gedenktag, um genau zu sein. Denn am 29. August 1972 begannen in München die Olympischen Spiele. Sie verliefen erst himmelhoch jauchzend, dann zu Tode betrübt. Erst das neue, das heitere und gastfreundliche Deutschland, dann das schäbige Attentat der palästinensischen Terroristen auf die israelische Mannschaft. Die kritische Debatte über die Folgen des Anschlags ist neu aufgeflammt. Hier und heute halte ich für die Nachgeborenen eine kleine Rückschau auf die olympischen Reitwettbewerbe vor einem halben Jahrhundert.
Vor dem Schloss Nymphenburg fanden damals die Dressurwettkämpfe statt: 33 Reiter aus 13 Nationen, zehn Mannschaften. Zunächst ging’s in der Qualifikation für die Einzelwertung auch um die Medaillen im Teamwettbewerb. Damals wie seit Tokio 2021 bildeten nur drei Aktive ein Team, das Streichresultat gab’s seinerzeit noch nicht. Das deutsche Trio Liselott Linsenhoff auf Piaff, Josef Neckermann auf Venetia und Karin Schlüter auf Liostro musste vor heimischem Publikum eine knappe, umso bitterere Niederlage mit 5095 zu 5083 Punkten gegen die damalige Sowjetunion mit Jelene Petschuschkowa auf Pepel, Iwan Kisimow auf Ichor und Iwan Kalita auf Tarif hinnehmen. Leider hatte Karin Schlüter nicht ihren besten Tag erwischt.
In der Einzelwertung glückte die Revanche: Liselott Linsenhoff glänzte auf ihrem schwedischen Fuchshengst Piaff und holte mit 1229 Punkten die Goldmedaille. Jelena Petuschkowa und ihr Rapphengst Pepel blieben mit 1185 Punkten deutlich zurück, bekamen gleichwohl Silber. Und Josef Neckermann auf der eleganten Venetia bekam 1177 Punkt, was die Bronzemedaille bedeutete,
Einige Anmerkungen ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Teambronze ging an die Schweden, zu deren Trio Ulla Haakanson auf Ajax gehörte – sie ist bis heute im Sattel aktiv. Auf Rang fünf die DDR, damals als eigenständiges Land bei Olympia dabei; es ritten Gerhard Brockmüller, Wolfgang Müller und Horst Köhler. Im Team der Kanadier auf Rang sechs stand die in Deutschland bestens bekannte Christolot Boylen-Hansen, spätere Partnerin von Reitmeister Udo Lange. Für die Schweiz startete Christine Stückelberger mit ihrem Granat, spätere Olympiasiegerin.
Das Springreiten war geteilt: Zunächst die Einzelwertung auf der nagelneuen Olympiareitanlage in Riem, das Mannschaftsspringen danach, traditionell als letzter Wettkampf im Olympiastadion – wenige Stunden vor der Schlussfeier. Am Start 54 Reiter aus 21 Nationen, 17 Mannschaften zu je vier Aktiven. Mit Streichresultat. Total kurios aus heutiger Sicht: Das deutsche Quartett mit Fritz Ligges/Robin, Gerd Wiltfang/Askan, Hartwig Steenken/Simona und HG Winkler/Torphy schaffte keine einzige Nullrunde, siegte am Ende trotzdem hauchdünn mit 32 zu 32,5 Strafpunkten vor der US-Equipe mit Bill Steinkraus/Main Spring, Neal Shapiro/Sloopy, Katy Kusner/Fleet apple und Frank Chapot/White Lightning. Das Team hatte immerhin zwei Nullrunden geschafft, aber Shapiros Zeitfehler aus der ersten Runde kostete das mögliche Stechen um Gold.
Die Italiener sicherten sich vor fünfzig Jahren die Bronzemedaille – das Quartett bildeten Vittorio Orlandi/Fulmer, Raimondo d’Inzeo/Fiorello, Graziano Mancinelli/Ambassador und Piero d’Inzeo auf Easter Light. Auf Rang vier die Briten mit dem kantigen Harvey Smith, der auch als knallharter Katcher im Ring von sich Reden machten sowie mit David Broome und Ann Moore. Für die Eidgenossen auf Platz fünf ritten Monica und Paul Weier, Max Hauri und Hermann von Siebenthal.
Besonders wichtig der Blick auf die Kanadier auf Rang sechs: Ian Millar auf Shoeman debütierte vor fünfzig Jahren auf dem olympischen Geläuf: Es waren seine ersten von insgesamt zehn(!) Teilnahmen an olympischen Spielen – bis heute ist Ian Millar, inzwischen über siebzig, der Rekordhalter über alle olympischen Disziplinen hinweg. Sensationell. Tochter Amy hat gerade an der WM in Herning teilgenommen. Und an Platz acht die Argentinier mit Hugo Arrambide, dem Kinderarzt aus Buenos Aires, der das Polopferd Camalote ritt – unvergesslich. Wir jungen Fans hatten ihn beim internationalen Traditionsturnier im Ludwigsburger Jahnstadion kennengelernt. Ein toller Typ.
Im Einzelspringen Tage zuvor hatte Graziano Manchinelli mit Ambassador das Dreier-Stechen um die Goldmedaille gewonnen vor der Britin Ann Moore auf Psalm, eine der weltbesten Amazonen jener Jahre. Bronze für Neal Shapiro auf Sloopy. Bester Deutscher auf Rang vier war Hartwig Steenken mit Simona; zwei Jahre später wurde er Weltmeister. Ebenfalls vierte: Hugo Simon mit Lavendel, für Österreich reitend, weil das DOKR ihn nicht für Olympia nominieren wollte, dazu gleichauf der Kanadier James Day auf Steelmaster.
Zur Military. 73 Aktive aus 20 Nationen, 18 Mannschaften. Die hoch favorisierten Briten sicherten sich die Goldmedaille – Richard Meade auf Laurieston, Mary Gordon-Watson auf Cornishman, Bridget Parker auf Cornish Gold und Mark Phillips auf Graet Ovation. Der Letztgenannte ist bis heute eine präsente Persönlichkeit der internationalen Vielseitigkeit. Große Namen standen damals auch in der US-Equipe, die Silber holte: Kevin Freeman auf Good Mixture, Bruce Davidson sen. auf Plain Sailing, Michael Plump auf Free and easy sowie James Wofford auf Kilkenny.
Bronze für das Team der Gastgeber: Harry Klugmann, der einst seine ersten Sporen auf der Unteren Körschmühle der Familie Hölzel im Stuttgarter Vorort Möhringen verdient hatte. Sodann Lutz Gössing, später im Springsattel hoch erfolgreich, auf Chicago, Karl Schulz auf Pisco und der großartige Reitmeister Horst Karsten auf Sioux. Dahinter geschlagen die Australier, das Quartett aus der DDR, die Schweizer mit Anton Bühler und Max Hauri.
Die Einzelwertung sei kurz berichtet: Gold für Richard Meade, den Briten auf Laurieston, dahinter der Italiener Alessandro Argenton auf Woodland vor dem Schweden Jan Jönsson auf Sarajevo. Nicht zu vergessen: Aus Fairness hatten die Deutschen Pferde aus der zweiten Reihe an die Mexikaner verliehen, weil die ihre Pferde nicht rechtzeitig aus der Quarantäne bekamen. Eine wirklich noble Geste – allerdings wäre mit der zweiten Garnitur womöglich der Olympiasieg herausgesprungen. So ist das Leben.
Im Medaillenspiegel der Münchner Reitwettkämpfe stand Deutschland mit fünf Medaillen ganz vorne: Zweimal Gold, einmal Silber, zweimal Bronze. Und noch eine Episode zum Schluss: Richter am Wassergraben der Springen war August Föll aus dem südbadischen Appenweier, später Präsident des Landesverbandes der Reit- und Fahrvereine – ein unvergessener Kämpfer für den Turniersport in Baden-Württemberg und darüber hinaus, ein engagierter Förderer des Nachwuchses im Leistungs- und Spitzensport. Eines Tages fragte jemand nach August Föll. Die Antwort eines heiteren Zeitgenossen: „Ich weiß nicht, wo er ist. Ich lasse sofort den Rasen mähen!“ (August Fölls Spitzename lautete übrigens „Napoleon“.)