Von einer geschätzten, älteren Kollegen, deren Name hier nichts zur Sache tut, stammt das Prädikat „Die Heilige Ingrid“. Dahinter steckt viel Respekt, viel Anerkennung für den schwierigen Versuch, dem berühmten Reiternamen Klimke gerecht zu werden. Es klingt aber auch ein Hauch von Kritik dabei mit und der leise Vorhalt, sich selbst immer wieder zu überhöhen, eigene Fehler nicht klar zu benennen und einzuräumen, sondern lieber wortreich zu erläutern, scheinbar logisch zu begründen. In diesem Spätsommer durchlebt die Reitmeisterin Ingrid Klimke die wohl schwierigsten Tage ihrer Karriere im Sattel.

Vor ihrer Haustür, beim Turnier der Sieger im Herzen von Münster, hat Ingrid Klimke gestern den Grand Prix gewonnen: Mit ihrem WM-Pferd Franziskus, dem 14-jährigen Hannoverschen Hengst, gab die fünfköpfige Jury 77,560 Prozent – ein gutes Ergebnis, ein verdienter Sieg. Gleichwohl fragt man sich, kaum mehr als eine Woche nach der WM in Herning: Ingrid Klimke schon wieder im Wettkampfmodus? Gibt’s für Franziskus keine Pause? Was ist der Plan, der dahinter steckt? Heute Abend geht Franziskus beim Turnier der Sieger in Münster die Kür, morgen gewiss den Grand Prix Spezial.

Wichtige Rückblende: Die Saison 2021 war für Ingrid Klimke, alles in allem, ein gebrauchtes Jahr wie man so sagt. Im Vorfeld der Olympischen Spiele von Tokio stürzte sie schwer, musste ins Krankenhaus – der sicher geglaubte Teamplatz in Tokio war futsch. Die aktuelle Saison 2022 brachte nicht die von ihr und ihren Fans erhoffte Wende: Der versierte und erfahrene Hale Bob verletzte sich beim WM-Testevent in Pratoni del Vivaro – das Ende seiner Karriere. Ein tiefer Einschnitt.

Klimkes Versuch, mit ihrer Westfalenstute Siena just do it den Zug zur WM nach Pratoni nicht zu verpassen – in der Aachener Soers spektakulär gescheitert: Zwei Vorbeiläufer, am Ende mehr als 90 Strafpunkte. Die Quittung kam notgedrungen von Bundestrainer Peter Thomsen und dem Ausschuss Vielseitigkeit: Ingrid Klimke wurde nur in Block drei der neuen Kadereinteilung rangiert. Gewiss eine Enttäuschung für sie. Rein sportlich aber gerechtfertigt.

Wer Ingrid Klimke kennt, sie seit mehr als zwei Jahrzehnten im Wettkampf verfolgt, der weiß, dass die heute 52-Jährige nicht kneift, nicht resigniert – ganz im Gegenteil: Sie kämpft! Ihr Versuch, in der Aachener Soers sich zugleich für die Dressur-WM und die Buschreiter-WM zu qualifizieren – im Nachhinein keine gute Idee. Zuviel gewollt. Ihr Startplatz in Herning war auch der Tatsache geschuldet, dass das deutsche Quartett geschwächt zur Titelverteidigung antreten musste. Die Details sind bekannt. Immerhin wurde Klimke für ihren Fleiß und ihren Mut mit Teambronze belohnt – allerdings als Streichresultat. Den Einzug ins Kürfinale hat sie verpasst.

Weshalb Ingrid Klimke vor der Sportpresse in Herning kokett erklärte, sie hoffe drauf, bei der Vielseitigkeit im belgischen Arville doch noch den Sprung ins Pratoni-Team zu schaffen, bleibt ihr Geheimnis. Ihre Stute Siena lahmte auf dem Weg zur Verfassungsprüfung – einmal mehr klebte Klimke das Pech an den Stiefeln. Ihr Start in Münster an diesem Wochenende zeigt, dass sie es ernst meint mit dem, was sie in Dänemark angekündigt hat: „Ich suche meine Chance in der Dressur!“

Kein Zweifel, jeder hat das Recht, seine sportlichen Ziele abzustecken und mit aller Kraft zu verfolgen. Aber jeder Spitzenreiter muss dabei wissen, dass er das vor den Augen der Öffentlichkeit tut. Auch der Deckhengst Franziskus hat eine lange und anstrengende Saison hinter sich – bis zur Dressur-EM 2023 bei Ludger Beerbaum ist noch lange hin. Wer von „unseren“ Dressurreitern die Weltcuptour in den Hallen bestreiten wird, ist gegenwärtig noch völlig offen.

Dabei geht es, wenn ich es recht sehe, am Ende dieser Saison 2022 um nicht mehr und nicht weniger als die Neuausrichtung der ersten Mannschaft: Welche vier Reiter plus Reserve stehen für die EM 2023 im Blickpunkt? Wichtiger noch: Welches Trio kann in zwei Jahren bei Olympia vor dem Schloss von Versailles das Team-Gold aus Tokio verteidigen – möglichst auch das Einzelgold oder zumindest Medaillen?

Vor wenigen Wochen, im Vorfeld der WM von Herning, gab’s in der Süddeutschen Zeitung einen Artikel zu lesen über Ingrid Klimke. Zwischen den Zeilen, so jedenfalls klang’s für mich, liebäugelt sie damit, es ihrem 1999 verstorbenen Vater gleichzutun: Der glänzte zunächst in der Military, war 1960 Deutscher Meister und zugleich Olympiateilnehmer in Rom. Bereits 1964 hatte er den Schwenk zur Dressur perfekt vollzogen, gewann Teamgold mit Harry Boldt und Josef Neckermann.

Am 14. September beginnt vor den Toren von Rom die WM der Buschreiter – ohne Ingrid Klimke. Nominiert sind Sandra Auffarth mit Viamant, Michael Jung mit Chipmunk, Julia Krajewski mit Mandy und Christoph Wahler mit Carjatan, Einzelstarterin ist Alina Dibowski; Nicola Aldinger und Sophie Leube stehen als Reserve bereit. Wie bei Dressur- und Springreiter-WM auch geht’s bei den Buschreitern darum, bei dieser WM mindestens Rang fünf zu belegen, damit die Qualifikation für Paris 2024 frühzeitig sicher ist. Keine leichte Aufgabe.

In den Tagen bis zur WM in Rom werde ich in meinen Blogs die Geschichte der Military/Vielseitigkeit durchleuchten.