Von Statistik und von Rekorden hält Michael Jung nicht allzu viel. Doch sein fünfter Sieg beim Five-Star-Event in Lexington geht in die Geschichte der Vielseitigkeit ein: Seine 20,1 Punkte sind das beste Resultat, das bis dato je in einer Fünf-Sterne-Prüfung erzielt wurde. Hut ab! Es war, so die Statistik, sein elfter Sieg auf diesem Niveau. Nach seinem Triumpf sagte Michael Jung vor der Presse in Kentucky: „Es ist ein sehr spezieller Moment für mich!“

Was Michael Jung damit meinte, das lässt sich – finde ich – leicht erahnen: Das vergangene Jahr 2021 war keine leichte Saison für den Ehrenbürger von Horb: Bei Olympia in Tokio waren alle Medaillenchancen futsch, als FischerChipmunk an einem eigentlich harmlosen Holzstoß etwas zu nahe kam, das Sicherungssystem löste aus, die oberen Hölzer rutschten nach unten – 20 Strafpunkte, aus der Traum! Der Protest brachte nichts – für Michael Jung und sein Team sah es so aus, als habe die Vibration des herannahenden Pferdes das System ausgelöst und nicht ein Rumpler gegen den Holzstoß. Der Protest wurde abgeschmettert, Jung blieb am Ende nur Rang sechs – eine herbe Enttäuschung.

Wochen später bei der EM in Avenches, für deren Austragung sich Michael Jung ganz besonders eingesetzt hatte, blieb ihm das Pech am Reitstiefel haften. Der Schweizer Dressurrichter Christian Landolt fällte ein Fehlurteil, benachteiligte Jung und FischerWild Wave deutlich – am Ende blieb ihnen nur der undankbare Rang vier, die verdiente Medaille gab’s nicht. Michael Jung erklärte das Jahr 2021 bereis kurz danach als „Abgehakt!“ Wohl dem, der die Dinge des sportlichen Lebens so nüchtern und so sachlich sehen kann.

Umso mehr gönnen die vielen Fans, die Michael Jung in aller Welt hat, ihm den ‚Triumph in der vergangenen Nacht auf dem hügeligen Grasland von Lexington, auf dem er sich so wohl fühlt wie nirgendwo sonst – mal abgesehen vom heimischen „The Länd“ zwischen dem Schwarzwald und der Schwäbischen Alb. Vor der Presse in Kentucky sagte der strahlende Sieger: „Ich hatte heute schon beim Warm-up vor dem Springen ein großartiges Gefühl. Das machte mich etwas entspannter, denn der Druck war natürlich da, denn es war ja ein wichtiger Test im Hinblick auf die Weltmeisterschaft im September in Rom.“ Also habe er versucht, konzentriert zu bleiben. „Es ist unglaublich und wunderbar – ich konnte alle Phasen dieses Finalspringens genießen.“

Weil man in Kentucky etwas anders rechnet als ich es tue, sieht die Statistik so aus: Michael Jung gewinnt nach der Rechnung der Veranstalter jetzt zum vierten Male den Fünf-Sterne-Klassiker. Nur der legendäre US-Profi Bruce Davidson hat fünf Siege auf seinem Konto. Ich rechne, wenn’s gestattet ist, aber anders: Bei mir zählt der WM-Titel von Michael Jung und Sam aus dem Jahr 2010 selbstverständlich mit – es war der Start seiner Weltkarriere, die in der Nacht zum 1. Mai unserer Zeit einen weiteren Höhepunkt erlebt hat.

Michael Jung, so die weitere Statistik, hat jetzt seinen elften Sieg in einer Fünf-Sterne-Prüfung eingefahren. Die Reiterlegende Sir Mark Todd hat ebenso viele; an der Spitze der ewigen Bestenliste rangiert der baumlange Brite William Fox-Pitt mit 14 Siegen auf diesem Niveau.

Und weiter mit Michael Jung: „Du versuchst ja, immer dein Bestes zu geben. Deshalb stehst du morgens früh auf und gehst in den Stall, selbst wenn es minus zwanzig Grad hat, oder wenn’s regnet oder bei sengender Hitze. Deshalb ist es heute hier ein spezieller Moment für mich. Ich habe Dank zu sagen an mein gesamtes -Team im Hintergrund! Sie helfen mir beim Training, um unsere Pferde auf dieses Niveau zu bringen. Vielen Dank sage ich auch der Fischer-Gruppe, mit deren Hilfe wir dieses Pferd,   FischerChipmunk, in Deutschland halten konnten, sodass es mir erlaubt ist, dieses wunderbare Pferd zu reiten.“

Bescheiden wie er ist, sagte Michael Jung in diesem Augenblick kein Wort über die Demonstration seiner überragenden Reitkunst. 20,1 Punkte auf dem Dressurviereck mit einer „Zehn“ und einem Dutzend „Neuner“, danach ein Geländeritt als wär’s ein Trainingsritt, schließlich eine Nullrunde im Parcours, auf dem ungewöhnliche viele Konkurrenten gescheitert waren. Die drei Filme von Kentucky sollte man ungeschnitten und unkommentiert als Lehrmaterial anbieten und vermarkten. Eventuell mit dem Originalkommentar von Michael Jung selbst. Die zweitplatzierte Britin Yasmin Ingham sagte: „Wenn mir jemand gesagt hätte, ich würde am Ende hier neben Michael Jung sitzen – ich hätte es nicht geglaubt!“

Peter Thomsen, der neue Bundestrainer, eigens mit nach Lexington gereist, sagte: „Alle drei Teilprüfungen waren wirklich Weltklasse. Ich glaube, es ist das beste Ergebnis, das es in einer Fünf-Sterne-Prüfung je gegeben hat. Man merkt, dass die beiden inzwischen ein perfektes Team geworden sind. Es dauert eben seine Zeit, aber inzwischen kennen sie sich in- und auswendig. Das hat sich auch im Kurs gezeigt, der reell fünf Sterne hatte und konditionell viel abgefragt hat. Die Dressur war makellos und im springen hat keine Stange auch nur gewackelt. Das war schon etwas Besonderes.“ Was er nicht sagte, aber wohl doch dachte: Der WM-Favorit für 2022 heißt seit gestern Michael Jung!

Am Donnerstag geht’s los in Marbach. Mit Michael Jung, versteht sich. Wir sehen uns!