Wie viele oder wie wenige Stunden Michael Jung in der vergangenen Nacht geschlafen hat, das weiß ich nicht. Eines aber weiß ich nach dem hochklassigen und spannenden Finale in der olympischen Vielseitigkeit ganz genau: Michael Jung, der morgen seinen 42. Geburtstag feiert, ist (endlich) wieder dort, wo er sportlich hingehört: Ganz oben! „Mein Chipmunk hat mich gerettet, auf die letzte Linie vor dem Ziel bin ich nicht gut hingekommen!“ Selbstkritische Sätze, die man früher so nicht von ihm gehört hat, selbst wenn’s mal schief ging, was in den Jahren seit Tokio 2021 immer wieder mal der Fall war.
Ich hab’s mir nochmal angesehen und aufgeschrieben. Nach dem Einzelgold auf Sam in Rio, seinem zweiten Triumpf nach London 2012, kam die Saison 2017 mit der EM in Polen, wo Michael mit Rocana Silber gewann hinter Ingrid Klimke auf Hale Bob. 2018, zur WM in Tryon/USA, musste Michael zuschauen, denn Rocana war verletzt. Bei der EM 2019 in Luhmühlen gab’s für Michael und Chipmunk, der aus dem Beritt von Julia Krajewski neu in seinen Stall gekommen war, wieder Einzelsilber.
Die Saison 2020 war wegen der Corona-Pandemie zum abhaken, die Spiele von Tokio wurden auf 2021 verschoben. Zuvor, bei der EM im schweizerischen Avenches, wurde Michael, der dort Fischer WildWave sattelte, vom Schweizer Dressurrichter Landolt krass benachteiligt – am Ende nur Rang vier.
In Tokio, wir alle erinnern uns, gab’s für Michael und Chipmunk in aussichtsreicher Lage im Gelände die „berühmten“ elf Strafpunkte, weil ein Sicherheitssystem auslöste – meine These ist und bleibt, dass die Vibration des Bodens durch das Pferd das technisch noch nicht ausgereifte System auslöste. Ein Rückschlag, der Michael bis in diese Tage beschäftigt – wie seine Interviews der letzten Tage bezeugen.
Dann kam die Saison 2022 mit der WM in Pratoni del Vivaro bei Rom. Ein mehr als kurioser Tag: Einerseits holte das deutsche Quartett den Titel, andererseits vergab Michael den zum Greifen nahen zweiten WM-Titel nach 2010 am allerletzten Sprung: Chipmunk kam zu nahe an den Aussprung aus der Zweifachen – Klotz und nur Rang fünf. Nix Medaille, nix Titel.
Ich hab‘ ihn damals kritisiert, weil ich den Eindruck hatte, er habe Chipmunk an den Sprüngen zu wenig geholfen, ihn quasi allein machen lassen. Der Mannschafstitel fiel unserem Team nicht zuletzt deshalb zu, weil sich Briten und Amerikaner an diesem Nachmittag zu viele Abwürfe leisteten. Meine Kritik nannte er damals „unfair“.
Die Saison 2023 stand im Zeichen der EM in Haras du Pin in der Normandie, wo Michael 2014 mit Rocana Vize-Weltmeister geworden war. Aber im Gelände lief’s nicht gut für Michael und seinen Chipmunk: Sturz ins Wasser – Ausgeschieden!
Am Beginn dieser olympischen Saison stand Luhmühlen mit seiner Vier-Sterne-Prüfung, in deren Rahmen auch die Deutsche Meisterschaft entschieden wurde. Michael und Chipmunk gingen als Führende und damit Letzte in den Parcours: Wieder leichte, völlig unnötige Fehler! Michael fällt auf Rang drei zurück, wird aber als bester Deutscher einmal mehr Deutscher Meister. Laura Collett und Yasmin Ingham stehen bei der Siegerehrung ganz vorne. Chris Bartle ist zufrieden.
Gestern also der Triumpf von Versailles. Michael Jung schreibt Sportgeschichte. Dreimal Einzelgold bei Olympischen Spielen – das wird ihm so schnell niemand nachmachen. Chris Bartle, der britische „Hexenmeister“, wird geschmunzelt haben, wie es so seine Art ist. Laura Collett konnte ihre klitzekleine Chance auf Gold nicht nutzen, Michael war zur Stelle. Chris hat wie in Tokio auch in Paris wieder Teamgold geholt. Chapeau! Michael setzt die deutsche Goldserie seit Hongkong 2008 fort. Nochmal Hut ab!
Und wie geht’s nun weiter? Das nächste große Ziel sind die Weltmeisterschaften 2026 in der Soers. Chipmunk wäre dann 18 Jahre alt. Ich denke, jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, ihn auf dem Höhepunkt auf die Weide zu führen. Mit allen Ehren. Denn besser kann es für diesen Hannoveraner nicht mehr werden.
Folgt die logische Frage, wer wird dann Michaels Nummer-eins-Pferd? Ob’s der Holsteiner Fischer Wild Wave wird, glaub‘ ich eher nicht. Ein Toppferd, gewiss – aber ein Aspirant auf WM-Titel oder gar olympische Medaillen in Los Angeles 2028? Michael, so höre ich, verwies dieser Tage auf seinen zehnjährigen Brandenburger Hengst Jim Knopf aus dem Besitz der Schweizerin Kerstin Häusermann. Im Stammbaum finden wir den Vollblüter Jaguar Mail, von dem so viele Buschpferde abstammen. Züchter ist die Familie Pfitzmann. Also wir werden sehen – ich lasse mich überraschen.
Und sonst noch was? Ja, noch was: Immer nach den Spielen enden die Verträge der Bundestrainer mit dem Bundesinnenministerium. In allen Disziplinen, nicht nur im Reiten. Ich gehe fest davon aus, dass Peter Thomsen weiter amtieren möchte und amtieren wird. Und sein Kader? Michael und Julia sind für mich gesetzt. Michael ist für mich der Sieger von Paris, Julia ist die Gewinnerin!
Was Sandra Auffarth mit ihrem Viamant du Matz im Sinne hat, das weiß ich nicht. Aber bei der WM 2026 in Aachen sehe ich den französischen Fuchs nicht. Christoph Wahler indessen wird sich hoffentlich bald von seinem missglückten Auftritt in Versailles erholen, nach vorne schauen und seine Pferde tiptop auf die Saison 2025 vorbereiten. Bei der EM im kommenden Jahr sollten Leute wie Jerome Robine und Malin Hotopp-Hansen ihre Chancen bekommen, sofern die Pferde fit sind.
Wie schon so oft gesagt: Nach dem Turnier ist vor dem Turnier!