Die Goldmedaille für Michael Jung auf Chipmunk, ebenso für Jessica von Bredow-Werndl auf Dalera und für Christian Kukuk auf Checker, dazu Teamgold für das Dressurtrio mit Jessica, Isabell Werth und Frederic Wandres, schließlich Einzelsilber für Isabell auf Wendy de Fontaine. Das ist die überragende Bilanz der deutschen Reiter bei den 33. Olympischen Spielen der Neuzeit. Den größten Anteil an diesem Erfolg haben gewiss die Aktiven, ihre Trainer, ihr unmittelbares Team und persönliches Umfeld. Aber so ganz ohne Pferdebesitzer, ohne Sponsoren, Mäzene, Gönner und wohlmeinende Geister im Hintergrund wäre dieser Medaillenregen undenkbar. Hier und heute stelle ich die Personen vor, die für ihr Zutun höchste Anerkennung und Respekt verdient haben.
Madeleine Winter-Schulze: Die 83-Jährige, waschechte Berlinerin zuckt mit den Achseln und lächelt dazu, wenn man sie fragt, wie viele Pferde sie eigentlich besitzt. Ihre Körpersprache signalisiert uns nur soviel: „Ich weiß es nicht, ich hab‘ sie noch nie gezählt. Es spielt für mich auch gar keine Rolle.“ In den fünfziger und sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zählte Madeleine Winter-Schulze zu den besten Amazonen, war Deutsche Meisterin der Amazonen in Dressur und Springen. Heute undenkbar. Als Tochter des legendären Eduard Winter, Berlins größtem Autohändler und Coca-Cola-Hersteller, ritt sie schon damals ein Pferd namens Coca-Cola. Damit war sie bereits ihrer Zeit weit voraus.
Die stets lächelnde, gut gelaunte und sportive Reiterin und Züchterin ist die Großzügigkeit in Person: Seit 1997 unterstützt sie Ludger Beerbaum, seit 2001 auch Isabell Werth. Ein Großteil von deren Toppferden gehört Madeleine – wovon sie keinerlei Aufhebens macht. Dabei geht es um Millionensummen. Als Michael Jungs Sam 2010 für ihn gesichert werden musste, steuerte Madeleine spontan 50 000 Euro bei. Als ein junges Mädchen ihr schrieb und sie bat, ihr doch eines ihrer vielen Pferde zum Reiten zu geben, weil sie selbbst sich keines leisten könne, da winkte Madeleine nicht ab, sondern lud die Jugendliche spontan ein zum Vorreiten ein – mit einem ihrer Pferde im Anhänger trat das mutige Mädchen die Heimreise an.
Zwei Fälle, die mit Madeleine Winter-Schulze zu tun haben, sind während der Spiele von Paris publik geworden: Der Schimmel Cecker, das Siegerpferd von Christian Kukuk, und das Siegerpferd von Isabell, die dänische Stute Wendy, gehören zum Teil Madeleine Winter-Schulze.
Die Mitbesitzerin von Wendy ist übrigens die Französin Bolette Wandt, die Herrin auf Schloss Fontaine in der Normandie. Als die massiven Vorwürfe gegen Andreas Helgstrand öffentlich wurden, holte Bolette Wandt ihre Wendy sofort von dort ab. Helgstrand verkaufte seine Hälfte an diesem Pferd an Frau Winter-Schulze.
Thomas Müller: Unter den vieltausendfachen Fußballfans hat sich mittlerweile herumgesprochen, dass seine Frau Lisa mit gutem Erfolg Dressurpferde reitet, und dass die beiden auf Gut Wettlkamp, unweit von München, Pferde züchten und Handel treiben mit Sport- und Freizeitpferden. Zum Mitbesitz am neuen Olympiasieger Checker kam Thomas Müller vor Jahren, als Otto Becker, der das Pferde entdeckt hatte und bei sich ausbilden ließ, den Schimmel zum Verkauf anbot.
Christian Kukuk, das wissen wir seit wenigen Tagen, wollte diesen Wallach mit Cornet Obolensky und Ratina Z im Stammbaum unbedingt. Seither gehört das Pferd je zur Hälfte Madeleine Winter Schulze und Thomas Müller. Verkauf völlig ausgeschlossen. Wo aber liegt der praktische Nutzen für den bayerischen Kultkicker? Ganz einfach: In der „Publicity“, um es flott auszudrücken, und natürlich in der Tatsache, dass Lisa und Thomas jederzeit die hippologische Expertise eines Ludger Beerbaum und seiner Leute Anspruch nehmen kann. Eine klassische Win-Win-Situation!
Professor Klaus Fischer und seine Frau Sabine: Klaus Fischer, der am 17. August seinen 74. Geburtstag feiert, ist der Sohn einer weltberühmten Erfinderlegende. Sein Vater Arthur Fischer hat in den 50er Jahren nicht nur den weltweit bekannten „Fischer-Dübel“ erfunden, sondern auch die bis heute bei Millionen Kindern und Jugendlichen beliebten Fischer-Baukästen. Insgesamt geht es da um rund 1500 Patente! Das Unternehmen hat 4700 Mitarbeitende rund um den Globus, hat 2023 mehr als eine Milliarde Euro umgesetzt.
Der Weltkonzern Fischer mit seinem Stammhaus in Tumlingen, unweit von Horb-Altheim, wo Michael Jung und seine Familie zuhause sind, unterstützt den dreifachen Goldmedaillen-Gewinner in der Vielseitigkeit seit 2012, als er in London sein erstes Einzel-Gold gewann. Damals sagte Klaus Fischer: „Michael ist für mich ein Vorbild an Fleiß, Engagement und Talent – ein großartiges Vorbild für unsere Auszubildenden. Er verkörpert die Werte, für die unser Unternehmen steht.“
Mittlerweile ist aus dem Sponsor ein enger Freund der Familie Jung geworden; mehrere Pferde stehen in beiderseitigem Besitz – auch Talente für den Springsport. Als es 2019, nach den Weltreiterspielen von Tryon 2018, darum ging, den zum Verkauf stehenden Chipmunk in Deutschland zu halten, machte in erster Linie Klaus Fischer dieses Vorhaben möglich. Später spendierte er Michael Jung einen Allwetter-Reitplatz, auf dem professionelles Training möglich ist.
Mitbesitzer von FischerChipmunk sind übrigens auch das DOKR in Warendorf sowie der Bremer Arzt und Pferdezüchter Hilmer Meyer-Kulenkampff. Seine erfolgreiche Zucht basiert auf dem Vollblüter Nearco xx – Chipmunk verkörpert die achte Generation an Nachkommen dieses Hengstes. Michaels Olympiasieger ist vor 16 Jahren auf dem Bauernhof seines Züchters in Bruchhausen-Vilsen zur Welt gekommen. Wie es mit Chipmunk nach dem grandiosen Erfolg von Versailles weitergeht, werden wir sehen.
Beatrice Bürchler-Keller: Profunde Kenner der Geschichte der Dressurreiterei erinnern sich noch gut: Gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts machte die Schweizerin Beatrice Bürchler-Keller Karriere als internationale Richterin, zuvor hatte sie aktiv Erfolge bis zum Grand Prix. 2004 krönte sie ihre Karriere als Richterin bei den Olympischen Spielen von Athen. 2009 kam die heute 82-jährige auf die gute Idee, zunächst eines ihrer Pferde, später dann mehrere, bei der Familie Werndl im bayerischen Aubenhausen in Ausbildung zu geben. Als sich die ersten Erfolge einstellten, zog die Schweizerin die persönliche Konsequenz: Sie gab ihr Richteramt ab, sie wollte uner keinen Umständen in Interessenskonflikte geraten.
Bis heute hat es Beatrice Bürcheler-Keller, Tochter eines erfolgreichen Unternehmers, nicht bereut, seit langen Jahren schon eine enge und freundschaftliche Beziehung zu Jessica von Bredow-Werndl und ihrer Familie zu unterhalten. 2013 kaufte sie die vom bayerischen Dressurausbilder Werner Bergmann in Bad Wörishofen ausgebildete und zum Verkauf angebotene Trakehnerstute Dalera, Jahrgang 2007. Seit 2016 geht die Stute erfolgreich im Spitzensport, gewann 2017 in Donaueschingen ihren ersten Jung-Pferde-Grand-Prix.
Der geschichtliche Rest ist bekannt: 2021 Einzel- und Teamgold in Tokio, 2023 in Riesenbeck Einzelgold bei der EM. Und vor wenigen Tagen die Wiederholung dieses Erfolges: Einzelgold und Teamgold im Schlosspark von Versailles. Nochmal Chapeau! Dalera, so hören wir aus Aubenhausen, soll in der kommenden Saison noch zwei bis drei Turniere gehen – danach in die Zucht. (Beim nächsten Trakehner Hengstmarkt im Herbst in Neumünster kann man Jessica und ihre Dalera bestaunen.)
Ulrich Kasselmann: Seit dem zwölften Jahrhundert, man kann es sich kaum vorstellen, lebt und arbeitet die Familie Kasselmann in Hagen am Teutoburger Wald. Über Jahrhunderte prägte die Landwirtschaft das Leben und das Auskommen dieser Familie. Früher bot man Ferien auf dem Bauernhof, mittlerweile ist der Hof Kasselmann eine erste Adresse für die Ausbildung und den weltweiten Handel mit Dressurpferden.
Uli Kasselmann, 77 Jahre alt, ist ein Schüler der legendären Größen Harry Boldt, Walter „Bubi“ Günther und Willy Schultheiß. In seinem mittelständischen Unternehmen, der Hof Kasselmann misst vierzig Hektar, arbeiten 50 Leute. 200 Pferde stehen ständig zum Verkauf, seit vierzig Jahren veranstaltet Uli Kasselmann mit seinem Freund Paul Schockemöhle die Auktion „PSI“ in Ankum.
Seit 2007 zählt der in Kehl geborene Frederic Wandres, übrigens ein Badener, der Hochdeutsch spricht, zum Kasselmann-Team. Der 37-Jährige ist aktuell die Nummer eins unter den deutschen Berufsreitern. 2023 stand er im deutschen Quartett bei der EM in Riesenbeck, wo man Silber holte. Aktuell hat er seinen Teil dazu beigetragen, dass es in Versailles das 15. Teamgold der Geschichte gab. Als Frederic in Aachen einen Durchhänger hatte, ihm der Stress in Richtung Olympia an die mentalen Kräfte ging, stellte ihn Isabell Werth in den Senkel mit diesen drei Worten: „Reiß‘ Dich zusammen!“
Ludger Beerbaum: Als sein Angestellter Christian Kukuk mit seinem Checker zum Stechen der besten drei im Einzelfinale von Paris antrat, gab er ihm als sein Chef diese Marschroute vor: „Du kannst das! Also mach‘ es!“ Was dann geschah, ist bekannt. Ein historischer Erfolg: Ein Olympiasieger, Barcelona 1992, formt in seinem Betrieb, 32 Jahre später und nach zwölf Jahren der Zusammenarbeit, einen Olympiasieger! Das ist, wenn ich mich nicht irre, einmalig in der Geschichte des Springsports! (Der Brite Pieter Charles gewann 2012 in London Teamgold, sein Sohn Harry jetzt in Paris ebenfalls.)
„Ich könnte nicht stolzer sein“, bekannte Ludger Beerbaum jetzt in Versailles. Und Christian sagt zurecht, er habe Ludger alles zu verdanken: „Ich empfinde es als großes Glück, dass mein Idol ein Olympiasieger ist – und ich bin es jetzt auch!“ Trotzdem, so denke ich, Ludger bleibt der Chef und Christian sein Angestellter – auf Augenhöhe!
Diese und alle anderen Geschichten in diesem Blog, sind noch längst nicht zu ende erzählt!“ Wetten, dass…?
Grüße aus Stuttgart