Ich erinnere mich noch gut: Als der lackschwarze Hengst Totilas unter Edward Gal bei den Weltreiterspielen 2021 in Lexington/Kentucky glänzte und alle drei möglichen WM-Titel gewann, da sagte mir Isabell Werth im Vertrauen: „Der Hengst ist auf dem Markt, uns angeboten. Aber wir nehmen ihn nicht.“ Heute, knapp zwölf Jahre später, befeuert der im Dezember 2020 auf dem Schafhof eingegangene „Wunderhengst“ noch immer die Phantasie. Kees Visser, sein niederländischer Züchter und Verkäufer, und Paul Schockemöhle, der ihn damals nach Deutschland holte, streiten jetzt vor Gericht um noch vorhandene Samendosen. Für mich eine bizarre Szenerie.
Kein Zweifel, Aufstieg und Ende dieses charismatischen Rappen zeigt uns wie in einem Brennglas den Glanz und auch das Elend des modernen Turniersports. Isabell Werth erklärte damals öffentlich: „Ich reite nur Pferde, die ich selbst ausgebildet habe.“ Dabei wäre Madeleine Winter-Schulze wohl bereit und in der Lage gewesen, die Millionensumme zu bezahlen, die seit damals im Raum stand: Zehn Millionen Euro. Seit dem gründlichen Bericht der geschätzten Hamburger Kollegin Gabriele Pochhammer in der Süddeutschen Zeitung wissen wir: Es waren 9,5 Millionen.
Wichtig zu erinnern: Der clevere Paul Schockemöhle hatte sich während des raketenartigen Aufstiegs von Totilas von dem niederländischen Besitzerehepaar Visser ein Vorkaufsrecht einräumen lassen. Und er war fest davon ausgegangen, dass sich Isabell Werth seine Offerte, den Hengst von Edward Gal zu übernehmen, nicht entgehen lassen würde. Ein Irrtum, wie wir wissen. Wochen später gaben dann Paul Schockemöhle und Ann Katrin Linsenhoff gemeinsam bekannt, dass Schockemöhle die Zuchtrechte und der Schafhof in Kronberg die Sportrechte übernehmen würden; Matthias Rath wurde Totilas‘ neuer Reiter, konnte aber im Sattel nicht überzeugen.
Ich erspare mir und der geneigten Leserschaft an dieser Stelle das spannende, aber auch verwirrende Auf und Ab der folgenden Jahre nach 2010. Frühzeitig erklärte Paul Schockemöhle einmal offen und ehrlich: „Bei Totilas war von Anfang an der Wurm drin!“ Jetzt, da es Streit gibt vor Gericht, erfahren wir, was der Mühlener wirklich unter „Wurm drin“ verstand, ohne es im Detail öffentlich zu sagen. Visser, so heißt es, überließ Schockemöhle beim Verkauf rund 600 Samendosen, der wiederum ließ sie im Labor überprüfen und man stellte fest, dass sie mit der sogenannten Beschälseuche CEM infiziert waren – alle 600 also wertlos, alle entsorgt.
Selbst als juristischem Laien verstehe ich heute, dass Paul Schockemöhle auf das Ehepaar Visser nicht gut zu sprechen ist, wenn man diese aktuellen Fakten betrachtet: Kees Visser erklärt nämlich, er besitze von Totilas von 240 Samendosen aus jener Zeit – alle in Ordnung, also alle zum Verkauf und zur Nachzucht geeignet. Schockemöhle fühlt sich übervorteilt, wundert sich verständlicherweise, weshalb seine 600 Dosen wertlos waren, während Visser 240 Dosen bei sich behielt, sie heute für einwandfrei erklärt und sie jetzt auf dem weltweiten Markt der Pferdezucht meistbietend veräußern möchte. Offizieller Streitwert: 3,5 Millionen Euro.
Vor Gericht und auf hoher See ist man bekanntlich in Gottes Hand. Also sind wir Außenstehende klug beraten, uns zurückzuhalten und den Gang der Dinge mit Aufmerksamkeit zu verfolgen. Ich vermute gleichwohl, dass wir im Prozess noch einiges mehr erfahren und lernen werden über die geschriebenen und die ungeschriebenen Gesetze der Pferdezucht und des Pferdehandels. Oder aber es läuft völlig anders: Ein Vergleich zwischen den beiden Parteien könnte womöglich Einigung erzielen, ohne ein quälendes, womöglich auch endloses Schauspiel in der Öffentlichkeit. Der Boulevard läuft sich bereits warm, wie man fast tagtäglich lesen kann. Im Internet ist Totilas wieder allgegenwärtig.
Totilas und kein Ende? Das hat der Hengst nun wirklich nicht verdient.