Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt! Gestern Abend, als Luhmühlen gelaufen war und sich viele von dort aus auf dem Heimweg befanden, kam aus Warendorf überraschend diese Nachricht: Sandra Auffarth mit Viamant, Michael Jung mit fischerChipmunk und Christoph Wahler mit Carjatan bilden das erste Trio auf der sogenannten Longlist für die olympische Vielseitigkeit. Im zweiten Block stehen Malin Hansen-Hottopp mit Quiddich und Jerome Robine mit Black Ice. Einer von beiden wird, Stand heute, die undankbare Rolle des Reservisten spielen müssen/dürfen. Die sogenannte Shortlist gib’s erst beim CHIO in Aachen.
Peter Thomsen, der Bundestrainer und sein Vielseitigkeitsausschuss, haben, so finde ich, richtig gehandelt, was zunächst einmal den Zeitpunkt angeht: So früh wie möglich Klarheit zu schaffen unter den Aktiven, damit jeder und jede wissen, woran sie sind. Bleiben alle Pferde fit und gesund, was zu hoffen steht, kann auf dem Weg nach Versailles keine Unruhe mehr aufkommen. Ob die gestern getroffene Nominierung für kritische Debatten sorgen wird, ob nach außen oder „nur“ nach innen, das werden wir sehen.
Dass die olympischen Regeln geändert worden sind, dass also pro Team nur noch drei Paare antreten dürfen und es keine Streichresultate mehr gibt – ich halte das nach wie vor für einen schweren Fehler im Sinne des so oft und heftig berufenen Tierwohls. Aber es ist müßig, jetzt darüber zu hadern. Die Regel gilt schließlich für alle. Dass sie, wie eigentlich beabsichtigt, den kleineren Nationen hilft, ausgerechnet in der Vielseitigkeit, ist erwiesener maßen völliger Quatsch.
Nun der Blick auf die Nominierten: Sandra Auffarth und ihr 15-jähriger Franzose Viamant du Matz haben sich dressurlich verbessert, was dringend notwendig war, denn in der Vergangenheit hat dieses Paar mancherlei Punkte auf dem Viereck liegen gelassen. Dafür überzeugen sie im Gelände und im Parcours wie jetzt wieder in Luhmühlen. Ob Sandra nach Paris ganz zu den Springreitern wechselt, werden wir sehen.
Michael Jung und sein 16-jähriger Hannoveraner FischerChipmunk glänzen auf dem Viereck und im Gelände – Schwachpunkt bleibt bei den beiden das Springen. Gestern ging der greifbar nahe Sieg in der Vier-Sterne-Prüfung durch einen Abwurf verloren. Michaels Kommentar dazu: „Wir sind ein bisschen schnell geworden. Ich hätte vielleicht etwas stiller sitzen können, damit er sich besser konzentrieren kann. Das war ärgerlich. Ansonsten war jeder Sprung spitze. Er ist super in Schuss!“ Ich seh’s etwas kritischer: Chipmunk leistet sich immer mal wieder ziemlich teure „Klötzchen“.
Christoph Wahler und sein zehnjähriger Carjatan. Der Juniorchef vom renommierten Klosterhof in Medingen steht für mich als „Wechsel auf die Zukunft“. Der 30-Jährige hat die Nominierung für Paris hochverdient. Nicht nur wegen seines guten Reitens beim Fünf-Sterne-Klassiker in Kentucky. In den letzten Jahren hat Christoph gezeigt, dass er inzwischen in die erste Reihe der internationalen Topreiter gehört. Natürlich sind Olympische Spiele etwas besonderes und völlig anderes als „normale“ große Wettbewerbe. Aber Wahler und sein Schimmel haben das Zeug dazu, bei Olympia einen guten Job zu machen.
Malin Hansen-Hotopp, die in Kentucky ebenfalls überzeugen konnte mit Rang vier, und Jerome Robine sind nicht zu beneiden. Einer von beiden wird die Reserverolle übernehmen müssen. Gleichwohl gilt für beide dasselbe wie für Christoph Wahler: 2025 gibt’s wieder eine EM – da dürfen beide, wenn ihre Pferde fit sind, jeweils einen Teamplatz für sich reklamieren. Denn der 15-jährige Viamant und der 16-jährige Chipmunk werden ihre Karrieren in absehbarer Zeit beenden, eventuell schon nach Paris. So sehe ich das, Stand heute!
Vergessen wir nicht den Blick auf den „Block 3“, den wir auch seit gestern kennen: Nicolai Aldinger mit Timmo, Calvin Böckmann mit Phantom, Dirk Schrade mit Casino, Anna Siemer mit Avondale, Michael Jung mit Kilcandra, Julia Krajewski mit Nickel und Christoph Wahler mit D’Accord – sie bilden quasi das Fundament der deutschen Buschreiter für die kommenden Jahre. Aber seien wir ehrlich: Das ist viel zu wenig! Die deutsche Buschreiterei muss noch mehr tun, um starken Nachwuchs zu finden und zu fördern.
Übrigens denke ich, was die internationale Konkurrenz angeht, nicht nur an die britische Phalanx, die Chris Bartle seit seinem Weggang aus Deutschland nach den Spielen von Rio 2016 aufgebaut hat. In Paris ist ganz sicher auch mit den gastgebenden Franzosen zu rechnen, ebenso mit den Profis aus den USA, aus Australien und Neuseeland. Und bei Olympischen Spielen, das lehrt uns die Erfahrung, können die Favoriten straucheln und scheinbar Namenlose ins plötzlich Rampenlicht reiten.
Schließlich dies: Die Vielseitigkeit von Aachen hat seit gestern ihre Bedeutung verloren. Peter Thomsen hat es angekündigt: „In der Soers reiten wir unsere Pferde mit der Handbremse!“
Kritischer Schluss: Wer auf die Internetseite der Macher in Luhmühlen geht, der findet sich nur schwer zurecht. Was völlig fehlt, das ist die Geschichte dieses so geschichtsträchtigen Platzes. Siegerlisten von früher? Fehlanzeige! Geschichten über wichtige und verdienstvolle Mitmacher über die Jahrzehnte? Fehlanzeige. Das Ausweichen auf Wikipedia hilft nicht viel weiter. Beispiel DM: Ich bin bei Michael Jung von jetzt drei Titeln ausgegangen. Die FN-Pressestelle geht von vier Titeln aus, der geschätzte Kollege Jan Tönjes vom St. Georg schreibt gar von fünf Titeln. Nur eines kann stimmen.
Und noch etwas zum Nachdenken: Lara de Liederkerke-Meier, die die Fünf-Sterne-Prüfung verdient gewonnen hat – ihr größter Erfolg seit langem – freut sich zurecht über 40 000 Euro Siegprämie. Yasmin Ingham bekommt für ihren Sieg in der Vier-Sterne nur bescheidene 6000 Euro. Für mich ist das ein Missverhältnis. Mehr als 120 000 Euro macht der Titelsponsor Longines locker. Aber nur zwei deutsche Reiter nehmen teil. Nochmal sei’s gesagt: Nach Paris geht für Peter Thomsen und seinen Ausschuss die Arbeit für die kommenden Jahre erst so richtig los!