Ein alter Begriff kommt wieder zum Vorschein, er beherrscht aktuell den modernen Fußball – die Reiterei ist drauf und dran, ihn in ihren Sprachgebrauch zu übernehmen: das Momentum! Wer wie ich das kleine Latinum frühzeitig außer acht gelassen hat, um im Sattel die Welt zu erobern, der weiß immerhin: Das Momentum stammt aus der Welt der Börse und der Aktien, es gibt, so die offizielle Erklärung, „Aufschluss über Tempo und Kraft von Kursbewegungen sowie über die Trendumkehr“. Es geht also, kurz und knapp, „um die Dauer einer Bewegung“. Dabei lautet die einfache Frage: Geht’s mit uns aufwärts? Oder geht’s mit uns abwärts?

Während ich gerade Ferien mache mit der Meinigen auf der wunderbaren Insel Sylt, hat mich eine Nachricht per Mail erreicht, die mich stutzen lässt – zugleich aber spüre ich, dass dahinter ein ganz starkes Momentum steckt. Zitat: „Die klassische Reitlehre ist zum immateriellen Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen ernannt worden. Außerdem hat das Land NRW die Kulturform zur Aufnahme in der bundesweite Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes vorgeschlagen. Die Entscheidung darüber fällt im Frühjahr 2023.“

Initiator dieser Bewerbung ist die Bundesvereinigung der Berufsreiter (BBR), unterstützt von der FN und den deutschen Landgestüten. Ihnen geht es darum, „das Jahrhunderte alte Wissen rund um das Kulturgut Pferd in der Geschichte des Menschen zu bewahren“. Wenn das mal kein Momentum ist! Einfach großartig! Unsere Berufsreiter denken eben weit über den Tag hinaus, halten sich nicht allzu lange an den Stürmen auf, die etwa jahrelang über das Landgestüt in Warendorf hinweggefegt sind und einer handvoll Berufsreitern die Jobs gekostet hat – ob zurecht oder zu unrecht.

Nun frage ich mich allerdings, weshalb der Vorstoß in Sachen klassischer Reitlehre und Reitkunst gerade jetzt erfolgt. Die ehrenwerte Fachgruppe der Berufsreiter im Deutschen Reiter- und Fahrerverband (DRFV) existiert seit mehr als einem halben Jahrhundert. Ich selbst gehöre ihr als zahlendes Mitglied an, seitdem ich von 1966 bis 1969 „Bereiterstift“ war beim renommierten Reitmeister Robert Schmidtke am Ohligser Weg in Hilden. Dass ich Teil war von einem Kulturgut, das man heute als immaterielles Kulturerbe einordnet, wäre mir damals nicht in den Sinn gekommen. Allerdings wusste ich seinerzeit auch noch nicht, was ein Momentum ist. Ehrlich jetzt.

An dieser Stelle kurz zum Fußball: Wenn eine Mannschaft am Drücker ist, wenn sie Tore schießt und als Sieger vom Platz schreitet mit stolzgeschwellerter Brust, dann hatte sie das Momentum. Ganz klar. Wenn sie aber den Aufstieg in die erste Liga verpasst und verpatzt, dann hatte sie das Momentum zwar auch, aber leider in die falsche Richtung. Ingrid Klimke beispielsweise reitet seit einem Jahr auf der dunklen Seite des Momentums: Im Frühjahr 2021 stürzte die Münsteranerin schwer mit einem Nachwuchspferd, musste die Olympischen Spiele von Tokio abschreiben. Vergangenes Wochenende lahmte ihr Hale Bob plötzlich auf der recht harten Geländestrecke von Pratoni del Vivaro, zog sich einen Sehnenschaden zu.

Man muss kein Prophet sein, um zu fürchten, dass Hale Bob mit seinen 18 Jahren für die WM im September kaum in Frage kommt. Den geplanten Start in Luhmühlen am kommenden Wochenende hat Ingrid Klimke erwartungsgemäß abgesagt. Ihr Zweitpferd Just do it ging in Pratoni sehr gut, belegte Platz zwei – für die WM dürfte es zu früh sein. Wenn das Momentum nach unten zeigt, könnte man durchaus auch von Pech sprechen. Das versteht jeder. Mit dem Latein ist es hingegen so eine Sache.

Ob Alwin Schockemöhle sich für das Momentum interessiert, etwa das von Werder Bremen, weiß ich nicht. Was ich aber weiß, ist dies: Der älteste der Schockemöhle-Brüder feiert am 29. Mai, dem Sonntag  der kommenden Woche, seinen 85. Geburtstag. Da kommen, liebe Leserinnen und Leser, uns allen gewiss viele, viele Erinnerungen ins Gedächtnis: Olympiasieger mit Warwick Rex 1976 in Bromont unter Blitz und Donner. (Ach so, im Springreiten – für die Nachgeborenen sei’s gesagt.) Bereits in Rom 1960 hatte er mit HG Winkler und Fritz Thiedemann Mannschaftsgold gewonnen. Alwin war auch Europameister, Derbysieger und vieles andere mehr.

Eigentlich kam Alwin von der Vielseitigkeit her, hatte 1956 die Qualifikation für die olympischen Reiterspiele in Stockholm geschafft, wurde aber nicht nominiert. Prompt wechselte er in den Springsattel, was allerdings seiner Gesundheit auf die Dauer nicht förderlich war. Wegen seiner  Rückenschmerzen trug er beim Reiten ein Korsett – bis es nicht mehr ging. 1977 stieg er aus dem Sattel, widmete sich der Traberzucht; sein Abano AS gewann 2003 sogar den Prix d’Amerique in Paris, das weltweit wichtigste Rennen. Alwin Schockemöhle wurde zum erfolgreichsten Traberzüchter Europas.

Anfang März 2002 gab es im Leben von Alwin Schockemöhle und seiner Frau Rita eine dramatische Wende: Vier Männer, wahrscheinlich alle aus Osteuropa, überfielen das Ehepaar in ihrem Haus in Mühlen, fesselten die beiden und raubten wertvolle Gegenstände. Bis heute sind die Täter nicht gefasst. Alwin Schockemöhle, ohnehin gesundheitlich angeschlagen, hat sich seitdem fast völlig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, lebt, wie seine Freunde sagen, quasi in einer Festung. Wie er und seine Freunde diesen 85. feiern, weiß ich nicht – ich weiß aber, dass ich höchsten Respekt habe vor seiner Lebensleistung.

Apropos Momentum. Zu dieser Lebensleistung, man kann darüber staunen, gehört übrigens die Erfindung der Rollkur! Das ist keine unverschämte Behauptung von mir, sondern eine Überlieferung aus berufenem Munde: Vor Jahren habe ich Dr. Uwe Schulten-Baumer in Rheinberg besucht, wenige Monate vor seinem Tod. „Der Doktor“, wie der Entdecker und Förderer von Nicole Uphoff und Isabell Werth bis heute genannt wird, galt vielen als „Erfinder“ der oft kritisierten Rollkur. Er aber sagte mir damals: „Alwin hat die Rollkur entwickelt, auch wenn man seine Reiterei mit den Schlaufzügeln seinerzeit noch gar nicht so nannte.“ Alwin beherrschte zweifellos das Reiten mit dem Schlaufzügel – leider ahmten ihn allzu viele kläglich nach, was vielen Pferden gar nicht gut bekam.

Tja, so ist das nun einmal mit dem Momentum. Ist einem der Augenblick gewogen, führt er uns in die höchsten Höhen, ist er jedoch an unsereinem gar nicht interessiert, sieht’s schlecht aus. Trösten wir uns für heute damit: Momentum ist immer! Rauf oder runter. So ist das Leben. Auf jeden Fall sind wir immaterielles Kulturgut. Das kann uns keiner nehmen.

Herzliche Grüße von der Insel Sylt.