Warum ihn seine Freunde „Wilde“ nannten, weiß ich nicht mehr. Denn ein Wilder war er keineswegs, eher etwas schüchtern und zurückhaltend, kein Freund großer Worte. 1978 gewann er auf dem erst siebenjährigen Westfalen Roman die Weltmeisterschaft der Springreiter. Wer ihn kannte, wer ihn je reiten gesehen hat über die schwersten Kurse, der weiß: Gerd Wiltfang war ein Instinktreiter, ein Genie im Sattel – für mich jedenfalls der beste Springreiter des modernen Springsports. Sein Entdecker Alwin Schockemöhle nannte ihn „virtuos“.

Ich erinnere mich noch gut: Als ich Bereiterstift war bei Robert Schmidtke in Hilden fuhren wir 1967 zum Turnier in der Westfalenhalle. Samstagabend gab’s das obligate Mächtigkeitsspringen. Wir saßen auf der Teilnehmertribüne, nicht weit entfernt von Alwin Schockemöhle. Der schickte seinen „Stift“ Gerd Wiltfang mit seinem Ferdl in den Parcours. Das war ein Klassepferd. Beide blieben fehlerfrei bis die Mauer zwei Meter hoch war oder sogar etwas mehr.

Gerd, der damals noch nicht „Wilde“ war, galoppierte ruhig und rhythmisch an unserer Tribüne vorbei, blickte suchend herüber zu Alwin – als wollte er fragen, was soll ich denn jetzt machen? Alwin gab eine Art von Handzeichen, das meinte so etwas wie „einfach weiterreiten!“ Gerd legte zu, steuerte die mächtige Mauer an – perfekt, wie in einem leichten Stilspringen, ritt das Genie passend an den Koloss aus rotem Holz heran. Ohne Mühe, ohne Fehler. Einen solchen Reiter hatte die Welt noch nicht gesehen. Alwin sagte: „Gerd sieht schon zwölf Galoppsprünge vor einem Hindernis, ob’s passt oder nicht!“

Gerd Wiltfang, Jahrgang 1946, war der Sohn eines Bäckermeisters aus Delmenhorst bei Bremen. Sein Vater wollte, dass der Bub auch Bäcker wird, um den Familienbetrieb eines Tages zu übernehmen. Doch den kleinen Gerd interessierten die Pferde des benachbarten Bauern viel mehr. Vater Wiltfang kaufte dem Sohn ein Pony, mit dem der quirlig durch die Backstube raste. Anfang der sechziger Jahre entdeckte Alwin Schockemöhle den Buben auf einem Ponyturnier, erkannte sofort das ungewöhnliche Talent. 1964 folgte „Wilde“ Alwins Angebot und ging zu ihm nach Mühlen. 1966, 1971 und 1979 wurde er Deutscher Meister.

Schon 1968, so zeigen es die Annalen, gewann Gerd Wiltfang, mittlerweile im Sattel für den rheinischen Baulöwen Josef Kun, 40 Springen plus 68 Platzierungen – Preisgeld 65 000 alte D-Mark, damals eine beträchtliche Summe. Später wechselte Wiltfang – wie auch Hartwig Steenken –  zum Gestüt Nehmten des Multimillionärs Herbert Schnapka. „Wildes“ beste Pferde: Ferdl, Ferrara, Athlet, Goldika, Askan, Roman und Galipolis – um nur einige zu nennen. Für die Ausbildung der Talente besaß er ein goldenes Händchen. Durch sein geniales Reiten machte er seine Pferde um zwei Klassen besser als sie eigentlich waren.

Seine größten Erfolge: 53 Nationenpreise für Deutschland. 1972 Team-Gold bei Olympia in München mit HG Winkler, Fritz Ligges und Hartwig Steenken. 1971 siegte er im historischen King George V. Gold-Cup im Stadion von Wembley, erhielt die Trophäe aus der Hand von Königin Elisabeth II. 1976 gewann er auf Davos den Großen Preis von Aachen. 1978 der WM-Titel in Aachen. 1979 das Derby in Hamburg. 1981 Teamgold bei der EM in München. – Im Sommer 1997 fuhr „Wilde“ mit seinen Pferden zum ländlichen Turnier nach Ilsfeld bei Heilbronn in Württemberg. Es sollte sein letztes sein. Tage später starb er bei Freunden in der Pfalz an Herzversagen, erst 51 Jahre alt. Gerd Wiltfang war der Jahrhundertreiter – mit dieser Meinung stehe ich ganz bestimmt nicht allein.