Der kluge Volksmund rät dazu, nach kritischen Ereignissen einfach eine Nacht darüber zu schlafen, sich mit einigem Abstand erst dann zu äußern, die eigenen Worte wohl zu wägen. Ich hab‘ die vergangene Nacht sehr gut geschlafen – gleichwohl bin ich jetzt, so gegen 11.30 Uhr am Vormittag, enttäuscht darüber, dass Michael Jung, für mich nach wie vor der beste Buschreiter der Welt, den greifbar nahen WM-Titel am letzten Sprung hergeschenkt hat. Ja, auch Fans dürfen enttäuscht sein – sonst wären sie ja keine. 

Als die lange Siegerehrung vorüber war, sagte Michael Jung in die Mikrofone: Mein Pferd war super drauf. Ich weiß im Moment nicht, woran es lag. Es ist lief unglücklich und ist ärgerlich. Es ist super, dass unser Team den Titel geholt hat. Es war spannend bis zum Schluss. Mein Pferd war frisch und kernig. Am Schluss ist es blöd gelaufen. Ich hatte ein sehr gutes Gefühl. Es war ein sehr schweres Springen.“

Vielleicht war das „gute Gefühl“, von dem Michael Jung spricht, ein wenig trügerisch. Schon der erste Abwurf war aus meiner Sicht via Fernsehen ein Flüchtigkeitsfehler. Am letzten Sprung, von den TV-Kameras direkt von vorne gezeigt, schaut Michael so drein, als wäre er schon drüber – noch ein Flüchtigkeitsfehler. Ein wenig, so sehe ich es, hat ihm die letzte Konzentration gefehlt, der spürbare Kampfgeist zum Sieg.

Immer mal wieder, das gilt auch für seine Springpferde, handelt er sich solche Flüchtigkeitsfehler ein. Michael Jung Reitweise im Parcours baut darauf auf, die Pferde unmittelbar am und über dem Sprung weitgehend selbständig agieren zu lassen. Ich meine, er hätte Cipmunk an diesem letzten Steilsprung einen Tick mehr fordern, mehr unterstützen müssen. Ich weiß, dass jetzt viele Leserinnen und Leser zurecht sagen: Tja, auf der Tribüne wird jeder leicht Weltmeister! Stimmt. Doch ich denke, nur durch  einen offenen Diskurs kommen wir gemeinsam weiter.

Kein Zweifel, Michael Jung hat mit 2021 und 2022 zwei schwierige Jahre hinter sich. In Tokio verfehlte er die Medaille durch ein ausgelöstes Sicherheitssystem – die Bilder zeigen, dass Chipmunk den Sprung gar nicht berührt hat, wahrscheinlich hatten die Vibrationen des Untergrundes den Pin ausgelöst. Bei der EM wenig später in Avanches kostete ihn das krasse Fehlurteil eines Richters in der Dressur die eigentlich verdiente Medaille. Diesjahr hat Michal den Fünf-Sterne-Klassiker von Kentucky souverän gewonnen, mit einer feinen Nullrunde im Parcours. Also es geht doch. In Luhmühlen hatte er zuvor die Deutsche Meisterschaft gewonnen mit dem Iren Highlighter. Übrigens auf Vier-Sterne-Niveau. Tolle Sache.

Dass sich der Weltmeister von 2010 und Olympiasieger von London und Rio gestern darüber freute, zum zweiten Male nach 2014 auch Mannschafts-Weltmeister zu sein, ist mehr als verständlich. Doch zur Wahrheit gehört dies: Glücklose Briten und Amerikaner, die zu Beginn wechselweise auf Goldkurs ritten, brachten sich selbst um diesen Erfolg, unsere Equipe profitierte wesentlich von deren Fehlern. Ausgleichende Gerechtigkeit könnte man jetzt sagen mit einem Augenzwinkern, schließlich verdankt die toll reitende Jasmin Ingham ja Michael Jung den unverhofften Titel. (2018 schenkte bekanntlich Ingrid Klimke der Britin Rose Canter den WM-Titel.)

An dieser Stelle zu Sandra Auffarth: Nach einmal mehr schwacher Dressur, siehe Tokio, glänzte sie im Gelände mit einer makellosen Runde. Ihr Anteil am Teamgold. Im Parcours allerdings warf Viamant du Matz drei Stangen herunter – am Ende lieferte Sandra das Streichresultat, lag alles in allem auf Rang 23, einen hinter Christoph Wahler. Sandra Auffarth sagte: „Ich glaube, meinem Pferd steckte noch das Gelände in den Knochen. Es war sehr anstrengend für die Pferde, und heute ein sehr anspruchsvoller Parcours. Normalerweise wird Matz sehr vorsichtig, wenn er einen Fehler gemacht hat. Heute hatte ich das Gefühl, er war so ein bisschen mit allem anderen beschäftigt.“

Wenn man das hört und liest, könnte man den Eindruck gewinnen, seine Reiterin war im Sattel eigentlich nur Passagierin – doch in Wahrheit war sie die Pilotin. Dass drei Abwürfe klar auf die Kappe derjenigen gehen, die oben drauf sitzen, ist doch keine Frage. Aber selbstkritische Töne hört man von Sandra Auffarth so gut wie nie.

Übrigens: Hätte der britische Teamchef Chris Bartle die 25-Jährige Jasmin in seine Mannschaft genommen – vielleicht hätte es mit ihr zum Sieg gereicht. Hätte, hätte Fahrradkette… Ich meine, es macht natürlich einen gewaltigen Unterschied, ob man Mitglied einer Mannschaft ist, die streng nach der Order eines Nationaltrainers agieren muss. Die Einzelreiter haben es da weitaus leichter, müssen sich nur auf sich konzentrieren. Das gilt vielleicht ein Stück weit auch für einen so erfahrenen Reiter wie Michael Jung.

In einem Jahr sehen sich Europas beste Buschreiter zur Europameisterschaft in Haras du Pin in der Normandie. Daran haben Sandra Auffarth und Michael Jung, die damals Einzelgold und -Silber holten, die allerbesten Erinnerungen. Auch unser Team holte seinerzeit einen von jetzt drei Titeln. Ich bin mir sicher, dass Yasmin Ingham, wenn ihr Franzose Banzai du Lior fit und gesund ist, zum britischen Team zählen wird.(Vergessen wir an dieser Stelle nicht, dass die neue Doppelweltmeisterin in der Dressur Charlotte Fry heißt und einen britischen Pass besitzt. Die Dressur-EM 2023 in Riesenbeck wird wenigstens so spannend wie die WM von Pratoni.

Zum Schluss noch etwas Wichtiges für die Zukunft der Vielseitigkeit: Thomas Bach, der IOC-Präsident, war am Geländetag in Pratino, ließ sich vom FEI-Präsidenten Ingmar de Vos und unter anderem von Bettina Hoy die Strecke und den Verlauf des Wettkampfes erläutern. Gegenüber dem St. Georg sagte Bach sinngemäß dieses: Er begrüße, dass man die Sicherheit für Pferde und Reiter weiter verbessert habe. Im Blick auf die Olympischen Spiele müssten die Kosten für die Vielseitigkeit deutlich gesenkt werden, nicht nur, was die Geländestrecke angehe, sondern auch die Übertragungsrechte in den Medien. Für 2024 in Paris ist die Vielseitigkeit gesichert. Für 2028 in Los Angeles ist das letzte Wort wohl noch nicht gesprochen.