Michael Jung ist gestern heimgekehrt und steigt schon heute wieder in den Trainingsalltag mit seinen Pferden ein. In der Greenwich Taverne fließt das Bier in Strömen.
Drinnen ist es rappelvoll, auch draußen auf der Nevada Street stehen die Buschreiter, ihre Stars und ihre Fans dicht an dicht. Jeden Abend trifft sich das Reitervolk im Pub und davor, nur wenige Meter entfernt vom Eingang zum Olympiagelände.
Tumultartige Szenen spielen sich ab an diesem magischen Dienstagabend: Die Fans heben Michael Jung, den neuen Doppel-Olympiasieger, auf ihre Schultern, die ganze Straße singt: „Happy birthday, dear Michael – Happy birthday to you!“ Jung wird dreißig, ob er wirklich weiß, was er an seinem Wiegenfest geschafft hat: „Das wird bestimmt noch dauern“, bekennt er ehrlich. Thomas Bach, der DOSB-Präsident, hat ihm die Medaillen um den Hals gehängt und ihn heftig in den Arm genommen.
Fähnchen werden geschwenkt, wildfremde Pferdeleute aus aller Welt beglückwünschen sich, liegen sich in den Armen. Als die neuseeländische Reiterlegende Mark Todd im Pub erscheint, seine Bronzemedaille um den Hals, kennt der Jubel keine Grenzen! Als das britische Team mit Zara Phillips vorbeikommt, versteht man sein eigenes Wort nicht mehr.
Michael Jung wird fast erdrückt, ständig sind Handykameras auf ihn gerichtet, ein Fernsehteam der ARD weicht ihm nicht von der Seite. Mark Todd sagt: „Vor 28 Jahren war ich Olympiasieger in Los Angeles, jetzt hab ich wieder eine Medaille. Unglaublich.“ Er werde wohl seine Karriere als Buschreiter fortsetzen, obwohl er mit seinen 56 Jahren nach London eigentlich aufhören wollte, um sich ganz seinen Rennpferden zu widmen.
Vater Joachim Jung, der den unglaublichen Triumpf seines Sohnes noch nicht realisiert hat, hält trotzdem den Plan der nächsten Tage und Wochen parat: „Wir fliegen am Mittwoch zurück, am Abend gibt’s daheim eine Riesenfete – Michael weiß davon noch nichts, wir wollen das vor ihm geheim halten.“
An Urlaub oder Ferien mit der Freundin sei nicht zu denken: „Unser Michi bleibt kommendes Wochenende zu Hause, danach geht’s wieder zu den normalen Turnieren.“ Man habe den Stall voller junger Pferde, die bräuchten ihre tägliche Arbeit, wegen Olympia seien die eine Zeitlang zu kurz gekommen. Vater Jung sagt:
„Bei Michi zuhause liegen Reisegutscheine, die er gewonnen hat, unter anderem nach Afrika – die bleiben wahrscheinlich ungenutzt.“
Die Arbeit mit den Pferden, das sei die Welt seines Sohnes.
Michael Jung bestätigt das gerne: „Das Reiten ist mein Beruf. Ich könnte mir keinen schöneren vorstellen. Doch der Erfolg kommt nicht über Nacht, es steckt jahrelanges, tägliches Training dahinter. Wer das schleifen lässt, der fällt sofort zurück.“
Und die Leute, die ihm ihre Pferde zur Verfügung stellten, hätten ein Recht darauf, dass er sich so gut um sie kümmere wie irgend möglich: „Sara Algotsson-Ostholt, die das Gold am letzten Hindernis verloren hat, tut mir leid, aber so ist nun mal der Sport.“ Dabei blickte er für einen Augenblick wie entrückt auf seine beiden Goldmedaillen. Dann übergibt er sie zu treuen Händen an seinen Bundestrainer Hans Melzer, denn die Dopingkontrolle wartet; die Funktionäre des IOC blieben dem neuen Superstar des internationalen Reitsports unerbittlich auf den Fersen.
Und was wird mit Sam, dem besten Pferd, das die Welt der Vielseitigkeit je gesehen hat? „Für Sam gibt es in diesem Jahr keinen Wettbewerb mehr“, sagt Vater Jung. Da seien sich er und sein Sohn schon vor London einig gewesen.
Leopin und River of Joy würden zum Saisonschluss im Herbst an den Start gebracht. Anfang September, beim Bundeschampionat in Warendorf, der wichtigsten Leistungsschau für die deutsche Pferdezucht, wird der neue Doppel-Olympiasieger seine Nachwuchstalente vorstellen. Dort hat er in der Vergangenheit immer wieder junge Champions präsentiert.
Und dann ist da auch noch die Geschichte mit dem Japaner Kenki Sato. Seit knapp einem Jahr trainiert der Sohn eines Mönches, der Bestattungen und Hochzeiten zelebriert, bei der Familie Jung in Altheim bei Horb. Im Geländeritt am Montag sind er und sein Chippieh durch einen krassen Reiterfehler sang- und klanglos ausgeschrieden. Joachim Jung sagt: „Kenki hat im Stall bitterlich geweint. Am nächsten Tag sind seine Eltern, die hier in London waren, zu mir gekommen und haben gefragt, ob Kenki weiterhin Michaels Schüler bleiben dürfe, sein Ziel seien die WM 2014 in der Normandie und die Spiele von Rio in vier Jahren.“ Klar, darf Kenki in Altheim bleiben. Vater Jung lächelt milde:
„Michael hat ja die gleichen Ziele.“