Heute nehmen Michael Jung und sein Team im Gelände Kurs auf die Goldmedaille. Der Welt- und Europameister leistet sich auf Sam zwei unnötige Patzer. Als Reiter muss man gut zu Fuß sein, sehr gut sogar.
Michael Jung, der morgen, an seinem 30. Geburtstag, Olympiasieger im klassischen Dreikampf aus Dressur, Geländeritt und Springparcours werden will, hat in den letzten Tagen an die 30 Kilometer zurückgelegt. Fünfmal den kompletten Kurs mit seinen 5700 Metern. Jedes Hindernis, jede Bodenwelle, jede Wendung, jeder Anstieg und jeder Abhang – „Michi“ Jung besitzt die Fähigkeit, sich alles einzuprägen, um es, wenn er im Sattel seines Wallachs Sam sitzt, wie einen Film vor sich ablaufen zu lassen. Hans Melzer, sein Bundestrainer sagt:
„Es ist unglaublich, wie Michi sich konzentrieren, alles Störende ausblenden kann.“
Michael Jung selbst gibt eine verblüffende Analyse: „Der Kurs in Kentucky, wo wir vor zwei Jahren Weltmeister wurden, war schwerer als dieser hier.“ Ganz anders Andrew Hoy, der 52-jährige Australier, der schon dreimal Teamgold gewonnen hat: „Das ist der schwerste Kurs, den ich bei olympischen Spielen gesehen habe.“ Doch Bange machen, gilt nicht für Michael Jung: „Alles ist möglich, Du musst die Kräfte Deines Pferdes clever einteilen.“ Von Anfang an werde er flott losgaloppieren, die Ideallinie suchen und schauen, dass sein Sam seine Wendigkeit und Schnelligkeit ausspielen könne.
Sein Plan, über den er öffentlich kein Wort verliert, heißt, auf den Punkt gebracht: Die Konkurrenz aus Australien, Neuseeland und England, die in ihm den größten Gegner sieht, immer unter Druck setzen. Der Schwabe aus Horb möchte seine Gegner das Fürchten lehren. Alle Augen sind auf ihn gerichtet, seit zwei Jahren ist der 29-jährige Berufsreiter das Maß aller Dinge im reiterlichen Dreikampf.
Die Bundestrainer Hans Melzer und Chris Bartle haben für ihr Quintett eine klare Order ausgegeben, auf Englisch, versteht sich: „Clear round, just in time!“ Zu Deutsch: Fehlerfrei und innerhalb der erlaubten Zeit, also jenen 10.03 Minuten.
Doch die Sache hat, rein theoretisch gesehen, einen Haken: Die Engländerin Sue Benson nämlich, die fünf Jahre lang an diesem Kurs gefeilt hat und selbst als Buschreiterin erfolgreich war, sagt: „Ich glaube kaum, dass jemand das Zeitlimit schafft. Nur wer die Kräfte seines Pferdes geschickt einteilt, wer die Klippen meistert und am Ende des bergigen Kurses noch Kraftreserven hat – dem winken die Medaillen.“ Dieser Wettkampf wird im Gelände entschieden.
Michael Jung, der große Favorit, sagt aus seiner Warte etwas anders: „Man muss mit Köpfchen reiten, darf sein Pferd nicht die steilen Anstiege hochjagen, musst ständig darauf achten, wie ihre Kondition ist.“ Beispielsweise am Hindernis mit der Nummer 20: Dort geht es zweieinhalb Meter fast senkrecht hinunter – allein der Anblick dieses Steilhanges jagt einem kalte Schauer über den Rücken. Da lächelt Michael Jung:
„Kein Problem, man muss sein Pferd auf den letzten Metern ruhig herantraben lassen – wenn es Vertrauen zu seinem Reiter hat, wird es auch diese Aufgabe meistern.“
Weitere Klippen gibt es reichlich: Beim weltbekannten Observatorium, gut siebzig Meter über der Themse, müssen die Reiter, die imposante Skyline von London vor Augen, über einen Halbmond in den abschüssigen Hang springen. Michael Jung: „Für den Blick auf London bleibt keine Zeit. Wer da runterschaut, der riskiert Kopf und Kragen.“
Das deutsche Team liegt nach der Dressur in Front, gefolgt von den Australiern, Briten und Schweden. Der Japaner Yoshiaki Oiwa, ein Schüler des Schwaben Dirk Schrade, gewann überraschend die Dressur. Der Favorit auf die Goldmedaille leistete sich auf dem Viereck zwei unnötige Patzer: „Scheiße!!!“ War sein erster Kommentar aus tiefstem Herzen. Nie zuvor sei Sam „aus dem Trab plötzlich angaloppiert und auch im Schritt ist er noch nie angezackelt“.
Mit 40,60 Strafpunkten ist freilich, was die Einzelwertung angeht, trotz des elften Platzes, noch nichts verloren: „Morgen im Gelände wird sich vieles ändern“, so Michael Jung. Auch Hans Melzer, der Bundestrainer, blieb trotz der leichten Enttäuschung zuversichtlich: „Das Team steht für uns im Mittelpunkt. Da liegen wir an der Spitze. Das ist die Hauptsache.“ Die Reihenfolge nach der Dressur betrage, umgerechnet auf das Zeitlimit im Gelände,
„nur vier Sekunden – das ist kaum mehr als ein Wimpernschlag.“
Der olympische Geländeritt in Zahlen
Der Kurs führt über genau 5728 Meter durch den Greenwich Park im Osten Londons. Er ist mit 28 Hindernissen bestückt, bis zu 39 Sprünge sind zu überwinden, je nachdem, welchen Weg die Reiter wählen. Die erlaubte Zeit beträgt 10.03 Minuten, darüber gibt es Strafpunkte. Wer länger braucht als 20.06 Minuten, wird eliminiert.
Der erste der insgesamt 74 Reiter startet um 13.30 Uhr deutscher Zeit, der letzte um 18.22 Uhr. Die deutschen Reiter: Peter Thomsen/Barny 13.42 Uhr. Dirk Schrade/King Artus 14.38 Uhr. Ingrid Klimke/Abraxas 15.38 Uhr. Sandra Auffahrt/Opgun Louvo 16.42 Uhr. Michael Jung/Sam 17.46 Uhr.
Über die Vergabe der Medaillen entscheidet das abschließende Springen am Dienstag. Erst sind die Mannschaften an der Reihe, danach folgt der zweite Parcours für die besten 25 Einzelreiter.