Die olympischen Reiterspiele von Tokio sind Geschichte – jetzt gilt es, die Bilanz zu ziehen: Wo steht die olympische Reiterei im Jahr 2021? Wohin geht ihr Weg? Was können die kurzen drei Jahre bis zu den Spielen 2024 in Paris bringen?
Hat sich die vom IOC und von der FEI ausgegebene Parole „More Flags!“ bewährt? Haben mehr Nationen am Start in Springen, Dressur und Vielseitigkeit dem Sport mit den Pferden wirklich genutzt? Hat die internationale Reiterei ihre Daseinsberechtigung im olympischen Programm gefestigt?
Fangen wir an mit der wichtigsten Neuerung, nämlich der Abschaffung des Streichresultats und der damit verbundenen Reduzierung auf drei Aktive pro Mannschaft. Und reden wir nicht lange um den heißen Brei herum: Das Streichresultat ist und bleibt generell ein wichtiger Beitrag zum Tierschutz! Was IOC und FEI da beschlossen haben, ist blanker Unsinn! Für Paris 2024 müssen die alten und bewährten Regeln wieder eingeführt werden.
Immerhin gut, dass wir von nun an in den Nationenpreisen, bei der EM in Riesenbeck, in Aachen und beispielsweise nächstes Jahr bei der WM in Herning vier Reiter plus Reserve in allen drei Disziplinen als ein Team sehen, dazu das Streichresultat! Allein daran sieht man schon, was für ein Quatsch die Änderungen für Olympia in Wahrheit sind.
Ganz gleich, in welchen olympischen Wettkampf wir schauen, ob Dressur, Springen oder die Vielseitigkeit – überall wäre es angesichts der äußeren Umstände in Tokio hilfreich gewesen, wenn jedes Team vier Aktive am Start gehabt hätte und ein Streichresultat; die Hitze, selbst noch am Abend, setzte vielen Pferden sichtlich zu. Vor allem in den letzten Prüfungen sah man eine ganze Reihe von müden Pferden.
Reiter-Pferd-Paare, die mal einen schlechten Tag hatten, fielen dramatisch zurück, denken wir etwa an die Briten, die Scott Brash ersetzen mussten, denken wir an die Franzosen, bei denen Penelope Leprevost nun damit leben muss, das greifbar nahe Gold vermasselt zu haben. Denken wir an den Schweizer Neuling Bryan Balsiger, dessen 16 Punkte bitter zu Buche schlugen, oder denken wir an unseren alten Freund Rodrigo Pessoa, der mit einer Niederlage die olympische Bühne verlassen musste. Die Beispiele ließen sich verlängern.
Auf dem Dressurviereck, wo unsere Damen einmal mehr souverän den Ton angegeben haben, mag sich das Fehlen des Streichresultats am wenigsten stark ausgewirkt haben. Zugleich jedoch ist der nicht zu übersehende Versuch, die deutsche Dominanz aber mal so richtig in ihre Schranken zu weisen, für alle Welt sichtbar gescheitert. Wer die Dressuren verfolgt, wer die schweißnassen Pferde gesehen hat – die schweißnassen Aktiven bekümmern mich da nicht so sehr – der muss doch vehement dafür plädieren, die ohne Not gestrichenen, bewährten Regeln für Paris 2024 wieder einzuführen.
Gottlob ist das Streichresultat bei den bevorstehenden Championaten etwa in Hagen, in Aachen oder bei der WM 2022 in Herning nicht gefährdet. Hoffentlich bleibt das so. Sollte die von Ingmar de Vos geführte FEI an diesen Regeln rütteln, müssen sich die vernünftigen Aktiven aller Länder zusammentun und diesen Irrweg strikt ablehnen.
Jetzt zu den Buschreitern. Ich erinnere mich gut an ein Interview, das der Schweizer Tierarzt und Equipenchef Dominik Burger im Vorfeld der Spiele der „Schweizer Pferdewoche“ gegeben hat. Darin begrüßt er das Ende des Streichresultats und die Reduzierung auf nur noch drei Aktive pro Team ganz ausdrücklich. Hätte er gewusst, wie bitter die olympische Vielseitigkeit für ihn und seine Reiter ausgehen würde – er hätte bestimmt anders argumentiert.
Ich sage es mal so: Wer bei der Beurteilung neuer Regeln ausschließlich an seine eigenen Interessen denkt, wer dabei das große Ganze außer Acht lässt, der schadet am Ende vor allem sich selbst. Und es geht, wie wir in Tokio gesehen haben, ganz wesentlich auch um das Gesamtbild, das die Reiterei vor aller Welt abgibt. Ich bin ganz sicher, dass Dominik Burger bei der EM Ende September in Avanches gerne vier Reiter aufbieten und das Streichresultat zur Absicherung gutheißen wird.
Dass Michael Jung mit FischerChipmunk die neue, noch unausgereifte Sicherheitstechnik an Hindernis 11 zum Verhängnis wurde, ist ärgerlich. Aber nicht deshalb, weil ich die deutsche Brille auf der Nase habe und nicht über den eigenen Sattelrand hinausschauen kann – nein, im Interesse aller muss diese Technik auf den kritischen Prüfstand! Darüber sind sich viele einig in der Buschreiterszene. Die zurecht gestellte Frage, weshalb man in Frankreich nur dann elf Strafpunkte bekommt, wenn man das System auslöst und zu Fall kommt, ansonsten aber fehlerfrei weiterreiten kann – diese Frage muss umgehend beantwortet werden.
Ich bin sehr gespannt, welche Bewertung man bei der erwähnten EM in Avenches anwenden wird. Ich möchte nicht missverstanden werden: Alles, was die Sicherheit der Pferde und Reiter im Gelände erhöht, ist richtig und wichtig. Aber die Technik muss ausgereift sein, muss für alle gleich funktionieren. Das tat sie in Tokio nicht. Diese Technik ausgerechnet bei olympischen Spielen zu testen, ist aus meiner Sicht nicht akzeptabel.
Kommen wir zum Springreiten. Ich sag’s mal überspitzt: Was hat es zu tun mit dem olympischen Geist und „More flags!“, wenn wir einen braven Reiter aus Syrien sehen, der vom Pferd purzelt? Weitaus wichtiger wär’s doch, wenn man einen Cian O’Connor abläuten und disqualifizieren würde, wenn man sieht, dass seinem Pferd das Blut aus den Nüstern spritzt!
Das furchtbare Foto dieser Szene geht um die Welt – so ruiniert man den eigenen Ruf! Auch die sogenannte Blutregel ist Murks: Ein kleiner Kratzer durch die Sporen führt zum Ausschluss, ebenso Blut am Maul, wenn sich ein Pferd auf die Zunge beißt oder ein Äderchen platzt – O‘Connor aber darf sich als edler Ritter stilisieren, der den Horseman gibt und nobel auf das Weiterreiten verzichtet. Nicht zu glauben! Es ist, alle wissen das, derselbe Cian O’Connor, der 2004 in Athen Gold gewann – sein Pferd war mit Psychopharmaka gedopt!
Schließlich noch dies: Der sogenannte Moderne Fünfkampf, ein Relikt aus alter Zeit, bei dem offenkundig Unbelehrbare am Werk sind, muss aus dem olympischen Programm gestrichen werden!
Und wo, so frage ich mit Erich Kästner, wo bleibt das Positive? In Tokio haben wir herausragendes Reiten gesehen, Erfolge, die uns berührt haben: etwa das Gold von Julia Krajewski, ebenso das Gold von Jessica von Bredow-Werndl, von Isabell Werth und Dorothee Schneider. Ben Maher und sein Explosion haben uns begeistert, natürlich die drei Schweden und viele andere. Jessica Springsteen hat reiterlich überzeugt – dass ihr Vater eine weltberühmte Poplegende ist, tut da rein gar nichts zur Sache.
Das sind die Geschichten, die die Fans des Reitsports so gerne sehen möchten. Die Reiterei bleibt im olympischen Programm – alle müssen unseren Beitrag dazu leisten, dass das so bleibt.