Der 16-jährige Sohn des einstigen Marbacher Gestütshengstes Stan the manXX soll unter Michael Jung in Rio wieder Gold holen.

Ohne das Haupt- und Landgestüt im Lautertal auf der Schwäbischen Alb gäbe es das beste Vielseitigkeitspferd der Welt gar nicht: Der jetzt 16-jährige Braune Sam gilt unter seinem Reiter Michael Jung als Goldfavorit für Rio – sein Vater, der englische Vollblüter Stan the man XX, stand einst als Deckhengst in Marbach. „Unser Sam ist für mich die Nummer eins, der gehört mit zur Familie.
Ihm hab‘ ich meinen Aufstieg, meine größten Erfolge zu verdanken!“

Für Michael Jung, der zu recht das Prädikat „Jahrhundertreiter“ trägt, andere nennen ihn „den besten Reiter der Welt“, geht es vom 6. August an im Centro Hipico von Deodoro darum, seine beiden olympischen Titel von London 2012 nach Möglichkeit zu verteidigen. Bundestrainer Hans Melzer sagt es klipp und klar: „Wir fahren als Favoriten nach Rio, wir wollen dort – wie schon in Hongkong 2008 und in London vor vier Jahren – zweimal Gold holen!“ Und Michael Jung, über den der Weg zum Einzelgold führt, sagt:

„Ich möchte wieder eine Medaille, welche das ist, wäre mir am Ende egal. Ich weiß, wie schwer es wird. Dass alle in mir den Favoriten sehen, damit kann ich gut leben.“

Was hat das alles mit Marbach zu tun? Nun, eine solche Geschichte kann nur der Sport schreiben: Anfang der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts kauft der Balinger Unternehmer und Pferdezüchter Günther Kraut (Bizerba), übrigens der Vater der neuen Wirtschaftsministerin von Baden-Württemberg, Nicole Hoffmeister-Kraut, in Irland den Fuchshengst Stan the Man, ein englisches Vollblut, das bereits Rennen gelaufen war, wenn auch nur mit mäßigem Erfolg.

Weil aber Günther Kraut, der in seinem Privatgestüt Ancole im Balinger Engelestäle Holsteiner züchtet, zugleich ein patriotischer Gönner und Mäzen des landeseigenen Gestüts in Marbach ist, stellt er diesem den edlen Vererber zur Verfügung, verkauft ihn später zum fairen Preis an das Land. Leider stirbt Günther Kraut 1995 mit nur 58 Jahren – ohne diesen erfolgreichen Unternehmer und bundesweit renommierten Pferdezüchter gäbe es den jetzt 16-jährigen Wallach Sam nicht.

Der bescheide kleine Pferdezüchter Günther Seitter aus Aidlingen im Landkreis Böblingen sieht Stan the man 1999 im Gestüt, lässt seine Schimmelstute „Halla S“ von ihm decken. Das Ergebnis ist ein knuffiger brauner Hengst, dem Seitter, ebenfalls schwäbisch-patriotisch, den sperrigen Namen „Sam the schwäbisch man“ gibt, in Anlehnung an „Stan the man“. Sam bekommt das württembergische Brandzeichen, weil der im Ländle geboren ist, und gelangt nach allerhand Hin und Her in den Stall der Familie Jung in Horb-Altheim.

Sein Züchter Günter Seitter sagt: „Als Sam noch jung war, bin ich einmal Emilie Betz begegnet, der Reutlinger Spediteurin, die auch leidenschaftlich Pferde gezüchtet hat. Sie sagte damals zu mir: „Herr Seitter, ihr Pferdle wird mal etwas ganz Besonderes! Glauben Sie mir!“ Was für eine Weitsicht.

Allerdings beginnt Sams Karriere mit einer herben Niederlage: Als er zweieinhalb Jahre alt ist, soll er in Marbach gekört werden, also nach strenger Prüfung eingetragen werden als Zuchthengst. Doch die strenge Körkommission sagt „Nein!“, denn der Körperbau und die Bewegungen des braunen Jungspundes erscheinen den „Experten“ keineswegs als vorbildlich, um nachfolgende Generationen von Pferden zu prägen. Gottseidank, muss man heute sagen, denn wahrscheinlich wäre aus dem Zuchthengst Sam nie und nimmer ein Weltstar der Vielseitigkeit geworden.

2009 taucht er unter Michael Jung bei der EM in Fontainebleau zum ersten Male auf: „Ich habe dort Einzelbronze geholt, während der Rest unserer Mannschaft das Ziel gar nicht erreicht hat“, so erinnert sich Michael Jung. Und er sagt:

„Ich hab‘ von Anfang an gewusst, dass Sam die Extraklasse besitzt für den Dreikampf aus Dressuraufgabe, Geländeritt und Springparcours.“

Dass Jung selber es ist, der dieses und später viele andere Pferde durch seine überragende Reitkunst zu Welterfolgen führt, verschweigt der staatlich geprüfte Pferdewirtschaftsmeister immer wieder bescheiden.

Michael Jung behält also recht: 2010 gewinnt er mit Sam bei der WM in Lexington/Kentucky die Goldmedaille, wird 2011 in der Heide bei Luhmühlen Europameister, holt 2012 im Greenwich Park von London Gold im Einzel und Gold mit der deutschen Equipe, zu der, nebenbei bemerkt, auch Dirk Schrade gehört, der Neffe des ehemaligen Marbacher Hauptsattelmeisters Fritz Schrade.

Nicht zu vergessen: Im Herbst 2010 entführt die Mitbesitzern von Sam, Sabine Kreuter aus Bayern, „ihren“ Sam im Handstreich aus dem Stall der Familie Jung in Horb, weil die britische Buschreiterin Mary King reges Kaufinteresse zeigt, womöglich eine siebenstellige Summe auf den Tisch blättern würde. Per Gerichtsbeschluss muss das Pferd Tage später zurückgebracht werden, Wochen danach sichert ein Konsortium mit dem deutschen Verband sowie großzügigen Gönnern den unersetzlichen Sam für seinen Reiter und Ausbilder.

Sams Erfolge unter Michael Jung lückenlos aufzuzählen, würde den Rahmen sprengen, deshalb nur noch dies: 2014 Vizeweltmeister und Teamweltmeister in Caen, 2015 Sieg in Lexington/Kentucky, im Frühjahr 2016 in Badminton/Großbritannien, das bedeutet, einen dritten Sieg mit Rocana hinzugerechnet, für Michael Jung den Grand Slam der Vielseitigkeit sowie die Rekordsumme von mehr als 400 000 Euro als Preisgeld. Noch so ein Rekord.

Trotz alledem wollte Michael Jung eigentlich mit dem gerade neunjährigen Anglo-Araber Takinou in Rio antreten, denn er sagte: „Dieser französische Fuchs ist besonders gut in der Dressur. Und in Rio gewinnt nur, wer nach der Dressur mit ganz vorne steht.“

Wohlgemerkt, mit diesem Takinou hat Michael Jung vor einem Jahr in Schottland seinen dritten EM-Titel gewonnen, aber jetzt hat es nicht sollen sein: Vor wenigen Wochen, beim letzten Test in der Aachener Soers, gewann der Superreiter zwar mit Takinou, während Sam, auf Schonung geritten, „nur“ Sechster wurde, aber Jungs Rio-Favorit hat wohl in der Soers einen Zeckenbiss erlitten, bekam tagelang hohes Fieber, musste vernünftigerweise von der olympischen Startliste gestrichen werden.

Auf diese etwas dramatische, für den Pferdesport aber typische Weise, ist der heute 16-jährige Sam zum zweiten Male erste Wahl für Olympia. „Mein Sam ist topfit, wir alle sind gut drauf“, so Michael Jung kurz vor dem Abflug an den Zuckerhut. Mittlerweile sind alle deutschen Buschreiter mit ihren Pferden heil in Rio angelangt und auf Jungs Facebook-Seite tummeln sich die Fans mit ihren guten Wünschen.

Am kommenden Samstag und Sonntag läuft in Deodoro die Dressur, am Montag der Geländeritt und am Dienstag, 9. August, folgt das Finale mit dem Teamspringen, danach das Einzelspringen. Am Ende dieses Tages werden die Medaillen vergeben. Würden Sam und sein „Jockey“ mal wieder ganz oben stehen, bräuchte sich niemand zu wundern. Die beiden können nur sich selber schlagen. Wie sagt Bundestrainer Melzer:

„Michael hat keine Schwächen – genau das ist seine Stärke!“