Über Nacht sind aus dem Gold-Trio vom ruhmreichen Dienstag drei Konkurrentinnen geworden – jede kämpfte heute für sich allein. Denn das Dressurreiten ist, seien wir ehrlich, nun mal kein Mannschaftssport.

Isabell Werth brachte es, kurz nach dem Gewinn ihrer siebten Goldmedaille, treffend auf den Punkt: „Jessica hat die Nase weit vorn! Morgen kämpfen wir, wollen mal sehen, wie wir sie ärgern können.“ Ob’s an diesem Abend eine zünftige Siegesfeier gab, wissen wir Daheimgebliebenen nicht. Wir wissen nur, dass das Corona-Virus besonders gerne feiert, weil es sich dann so prima ausbreiten kann.

Blicken wir als historische Reminiszenz auf die ewige Bestenliste, um die es heute ging: 1928 gewann der legendäre Freiherr von Langen auf Draufgänger das Dressurgold, 1936 war es Heinz Pollay auf Kronos, 1972 Liselott Linsenhoff auf ihrem Hengst Piaff. 1984 schaffte es Reiner Klimke auf Ahlerich, 1988 und 1992 siegte Nicole Uphoff auf Rembrandt, 1996 glänzte Isabell Werth auf Gigolo – das war’s bis dato.
Kurzum, seit 25 Jahren wartet die deutsche Fangemeinde auf einen neuen Olympiasieg in der Einzelwertung. Eine ziemlich lange Zeit.

Heute hat in Tokio eine neue Zeitrechnung begonnen: Jessica von Bredow-Werndl, 35 Jahre alt, aus dem bayerischen Aubenhausen hat wahrgemacht, was die Beobachter, auch ich, seit der DM in Balve sehr wohl für möglich gehalten hatten: 91,732 Prozent für eine magische Kür auf der 14-jährigen Trakehnerin TSF Dalera, für eine Demonstration der klassischen Reitkunst, wie wir sie sehen und erleben möchten! Drei olympische Wettkämpfe, dreimal die Bestnote für die mit Abstand besten Ritte des Tages. Ihre zwei Goldmedaillen sind hochverdient! Ganz großes Kompliment!

Isabell Werth indessen musste, so sehe ich das, dem Alter ihrer Bella Rose, die siebzehn ist, letztlich doch einigen Tribut zollen. Der ebenfalls hochverdiente zweite Rang bringt ihr die zwölfte olympische Medaille seit Barcelona 1992. Das spricht für sich. Großes Kompliment!

Charlotte Dujardin, die Olympiasiegerin von London und Rio hat gleichfalls Respekt und Komplimente verdient: Ihr Freestyle ist nicht fit, der zehnjährige Gio noch nicht auf dem Gipfel seiner Möglichkeiten. Mit diesem kompakten Fuchs die Bronzemedaille zu gewinnen, spricht für sich. Schade, dass Dorothee Schneider ihre Chance auf Bronze nicht nutzen konnte. Ihr Showtime wirkte – wie auch einige andere der 18 Finalisten – etwas müde nach der langen und schweren Woche in Tokio. Dass die Richter sie auf den 15. Platz abstraften, verstehe wer will! Das hat Dorothee Schneider nicht verdient. Sie muss diese Sache abhaken, auf ihre Goldmedaille schauen und sich darüber freuen, dass die Horrorsaison 2021 so ausgegangen ist.

Vergessen wir einige derjenigen nicht, die diese Erfolge überhaupt erst möglich gemacht haben – zwei passionierte Damen des internationalen Pferdesports: Bearice Bürchler-Keller aus Zürich, eine frühere Fünf-Sterne-Richterin, die seit 2009 ihre Pferde von Jessica von Bredow-Werndl ausbilden und auf Turnieren vorstellen lässt. Die Besitzerin von Dalera bleibt stets bescheiden im Hintergrund, verkörpert persönlich die Tradition der klassischen Reitkunst. Wirklich schade, dass die Eidgenossen schon seit so vielen Jahren keine Topreiter auf dem Viereck mehr haben.

Die zweite Dame, die Dank und Komplimente verdient hat, ist natürlich Madeleine Winter-Schulze, die in Tokio wieder eng an der Seite von Isabell Werth stand. Was die deutsche Reiterei der 80-jährige Berlinerin mit ihrem wunderbaren Humor zu verdanken hat, das kann man in Worten kaum sagen. Also lasse ich es.