Bei den internationalen Buschreitern ist man sich einig: Der Olympiasieg im Greenwich Park zu London führt nur über den amtierenden Welt- und Europameister Michael Jung aus dem kleinen Örtchen Altheim bei Horb am Neckar.
Wer ist dieser 29-jährige Pferdewirtschaftsmeister, von dem sein Bundestrainer Hans Melzer sagt: „Unser ,Michi‘ reitet in einer eigenen Liga“? Grund genug, den sympathischen und bescheidenen Schwaben im Schwarzwald, unweit der Autobahn zwischen Stuttgart und dem Bodensee zu besuchen.
Mark Todd ist eine Legende. Der Neuseeländer, Jahrgang 1956, hat 1984 in Los Angeles und 1988 in Seoul das Einzelgold gewonnen, beide Male auf Charisma. Bei fünf olympischen Spielen holte er in der Vielseitigkeit fünf Medaillen, war zweimal Mannschafts-Weltmeister und feierte viele andere große Erfolge, nicht zuletzt in Burghley und Badminton. Mark Todd also, fast doppelt so alt wie Michael Jung, sagte kürzlich in einem Interview mit der Zeitung „London Evening Standard“: „Michael Jung wird derjenige sein, der am schwersten zu schlagen ist.“ Todd bestreitet dort seine sechsten Spiele, Jung seine ersten.
Als der so hoch Gelobte das liest, lehnt er sich in seinem Stuhl zurück, lacht übers ganze Gesicht und sagt: „Die Konkurrenz drängt mich in die Favoritenrolle, aber das überrascht mich nicht. Die wollen mich unter Druck setzen, ganz klar. Selbstverständlich fahre ich nach London, um Olympiasieger zu werden. Würde ich etwas anderes behaupten, müsste ich mich ja lächerlich machen.“ Doch in diese mediale Falle wird der Pferdewirtschaftsmeister mit der Jockeyfigur nicht tappen.
Einerseits bekennt er sich gerne zur sprichwörtlichen schwäbischen Bescheidenheit, die dazu rät, stets auf dem Teppich zu bleiben – andererseits ist es in diesem württembergischen Landstrich streng verpönt, sein Licht unter den Scheffel zu stellen, wenn Leistungen und Erfolge, ganz gleich auf welchem Sektor, eine andere Sprache sprechen.
Fontainebleau bei Paris in diesem März. Zur ersten internationalen Vielseitigkeit der olympischen Saison ist Michael Jung mit sechs(!) Pferden angereist. Im Drei-Sterne-Wettkampf siegt er auf dem 13-jährigen Sachsenhengst Leopin und belegt mit seinem zwölfjährigen Sam aus der baden-württembergischen Zucht Platz zwei. Sein Kommentar: „Mit Bundestrainer Hans Melzer war vereinbart, dass ich meinen Sam, der die WM 2010 und die EM 2011 gewonnen hat, nicht bis zum letzten fordere, sondern es erst einmal ruhiger angehen lasse.“ Dass Jungs drittes Ross in dieser Prüfung, der elfjährige River of Joy, im Endklassement Rang vier erreicht, sei nur am Rande erwähnt.
Auch im Ein-Sterne-Wettbewerb für die jüngeren Pferde gibt’s einen Doppelsieg für Jungs achtjährigen Baden-Württemberger Halunke und die erst siebenjährige Stute Rocana, 2011 die Weltmeisterin der sechsjährigen Geländepferde. Nur der zehnjährige Trakehner Vincent läuft in Fontainebleau, wo Jung 2009 EM-Bronze gewann, an diesem Wochenende nicht wie gewünscht.
Sechsmal Dressur, sechs Geländeritte und sechs Parcours, das alles binnen weniger Tage, stets binnen weniger Stunden – wie ist solch ein Pensum überhaupt zu schaffen? Nicht nur die Profis in der Szene wundern sich darüber, auch die Laien, die stetig wachsende Schar der „Michi“-Fans staunen mächtig. Er wiederum müht sich, die Dinge sachlich einzuordnen:
„Ich fahre nicht zum Turnier, um irgendwelche Rekorde aufzustellen. Was Fontainebleau betraf, so war es für mich und meinen Vater, der mich managt, eine praktische Überlegung: Zum einen sollten die Spitzenpferde einen Aufgalopp in die Saison bekommen, zugleich wollten wir die jüngeren Pferde einsetzen, um uns damit weitere Turniere zu ersparen. Unser Terminkalender ist ohnehin randvoll.“
Kein Zweifel, dieser Michael Jung ist das, was man klassischerweise einen „vielseitigen Reiter“ nennt. Und er ist ein Profi durch und durch. In der Stuttgarter Schleyerhalle hat er das 2010 eindrucksvoll unter Beweis gestellt: Sieg auf Leopin beim Indoor-Geländeritt, Sieg auf Roche im Hallenchampionat der baden-württembergischen Dressurreiter und Sieg auf Der Dürer in einem internationalen Springen gegen namhafte Konkurrenz. Ein geradezu historisches Triple.
Bundestrainer Hans Melzer nennt Jung einen „Siegreiter“, auch das Wort vom „Jahrhunderttalent“ ist schon gefallen. Jung selbst sagt: „Das Reiten ist mein Beruf. Also gebe ich immer mein Bestes.“ Zehn Pferde am Tag seien sein normales Pensum, manchmal gehe er mit Freunden ins Fitnesszentrum. Urlaub mit der Freundin – daraus werde 2012 wohl nichts werden.
Was steckt hinter all dem? Michael Jungs Vater Joachim ist selbst Berufsreiter, ein Schüler des mehrfachen deutschen Dressurchampions Udo Lange; viermal war Joachim Jung in seiner aktiven Zeit Landesmeister der Buschreiter. Sein Sohn hat in den letzten Jahren intensiv trainiert mit dem Springstilisten Marcus Ehning und dem Dressurreitmeister und Olympiasieger Hubertus Schmidt. Jung stellt lapidar fest: „Nur das Training mit den international herausragenden Spezialisten bringt dich als Buschreiter wirklich weiter.“
Eine Feststellung wie in Stein gemeißelt. Weiterer Kommentar überflüssig. Deshalb nur noch dies: 1999 war „Michi“ Jung erstmals Deutscher Juniorenmeister, 2003 Europameister der Jungen Reiter, mehrmals Landesmeister und Deutscher Meister der Berufsreiter. Anders gesagt: Als 17-Jähriger hat er seine internationale Karriere begonnen, am 31. Juli feiert er seinen 30. Geburtstag – es ist genau der Tag, an dem in London die Entscheidung fällt.
An dieser Stelle kommt noch einmal Mark Todd ins Spiel. Im eingangs erwähnten Interview hat er auch dies zu Protokoll gegeben: „Die Deutschen waren schon immer stark in Dressur und Springen. Aber sie haben auch in der Vielseitigkeit einen wirklichen Sprung nach vorne gemacht, weil das neue, kürzere Format des Geländes besser zu ihren Pferden passt.“
Als Michael Jung auch das gelesen hat, denkt er einen Moment lang nach – und sagt: „Der kritische Unterton ist mir nicht entgangen. Als es in der internationalen Vielseitigkeit noch die Rennbahn und die langen Wegestrecken gab, haben die Vollblüter das Feld beherrscht. Mit denen hat man auf die Dressurarbeit nicht so viel Wert gelegt, im Parcours kam der eine oder andere Fehler dazu.“ Inzwischen habe sich der Sport tatsächlich gewandelt:
„Wer heute ganz oben mitreiten will, der muss auf dem Viereck deutlich unter der Marke von 40 Strafpunkten bleiben, im Gelände fehlerfrei und möglichst innerhalb der erlaubten Zeit, im Parcours ebenfalls.“ Insofern habe Todd recht: „Es ist kein Zufall, dass immer mehr internationale Buschreiter deutsche Pferde kaufen, das hat man im Herbst 2011 ja gesehen.“
Analysiert man Michael Jungs Resultate, so zeigt sich: Meistens gewinnt er die Dressur, nimmt im Gelände ganz bewusst den einen oder anderen Zeitfehler in Kauf, um Kräfte zu sparen, und absolviert mit frischen Pferden das Springen ohne Probleme. Noch nie ist eines seiner Pferde im Vet-Check gescheitert. Auf jedem seiner Cracks sitzt der Schwabe „genau am Punkt“, wie die Fachleute sagen – das bedeutet: perfekte Einwirkung und Hilfengebung, stets die volle Kontrolle und immer hoch konzentriert.
Wer diesen „Ausnahmereiter“ – ein Prädikat, das ihm kein geringerer als Paul Schockemöhle angeheftet hat – zuhause im hügeligen Altheim bei Horb besucht, der kann den tiefgreifenden Wandel der letzten Jahre in der Vielseitigkeit mit eigenen Augen sehen: Im Springarten, wohl 200 Meter im Quadrat, finden sich feste Wälle, Tiefsprünge und Wasserstellen, aber auch drei Dutzend bewegliche Bürsten, Holzstöße und vielerlei mehr. Alles wird im Training ständig variiert. Vater Joachim Jung erläutert: „Michael startet diesjahr erstmals in Badminton, dem Mekka der Engländer.
Unser Leopin soll dort antreten, um sich auch für London zu qualifizieren – man weiß ja nie. Weil es dort auf dem Kurs einige In-Outs gibt, stellen wir die hier bei uns auf, um gut gerüstet zu sein.“ Nichts, auch nicht das kleinste Detail, bleibt dem Zufall überlassen. Natürlich steht Michael Jung im nahen Wald eine Galoppierstrecke über rund tausend Meter zur Verfügung, wo sich seine Pferde ihre Kondition holen. Und am Dressurviereck im Freien flattern weithin sichtbar die Fahnen, damit die Pferde sich von Anfang an daran gewöhnen. An alles ist gedacht.
Kein Wunder also, Altheim bei Horb ist eine der besten Adressen im internationalen Sport der Eventer. Deshalb hat dort der Japaner Kenki Sato seit längerer Zeit sein Quartier aufgeschlagen, bereitet sich in der schwäbischen Provinz auf die olympischen Spiele vor. Auch Eveline Bodenmüller aus Elgg reist mit ihren Pferden regelmäßig zum Training dorthin. Und der junge Felix Vogg, Eidgenosse vom Gut Weierhof in Radolfzell, hat mit Hilfe der Familie Jung den Weg zum Pferdewirtschaftsmeister und zum erfolgreichen Nachwuchsreiter eingeschlagen.
Mitte Mai in Marbach auf der Schwäbischen Alb wird der Countdown für Olympia eingeläutet. Michael Jung sattelt seinen Sam, auch Bodenmüller, Sato und Vogg wollen dort starten. Die Fans werden zahlreich wie noch nie zum altehrwürdigen Haupt- und Landgestüt pilgern. Danach heißt es dann „Daumen halten und Nerven bewahren“. Anfang Juli wird in der Aachener Soers nicht nur das deutsche Olympiateam endgültig nominiert. Der Wettkampf des Jahres im Greenwich Park zu London läuft vom 28. bis zum 31. Juli. Mal schauen, was Mark Todd dann macht.