Michael Jung auf Sam und das deutsche Team triumphieren im Greenwich Park. Einzelbronze für Sandra Auffahrt. Das ist der Stoff, aus dem die Legenden sind.
Der Profireiter Michael Jung aus Horb und sein zwölfjähriger Württemberger Sam haben gestern Reitsportgeschichte geschrieben. Wenige Stunden, nachdem der amtierende Welt- und Europameister, deutsche Meister, deutsche Profimeister und baden-württembergische Meister mit der Equipe das Mannschaftsgold gewonnen hatte, profitierte er im Einzelfinale vom Pech der Schwedin Sara Algotsson-Ostholt, deren Schimmelstute Wega sich am allerletzten Hindernis einen tragischen Abwurf leistete.
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll – mein Sam ist eben ein ganz besonderes Pferd“, sagte Jung, dem die Tränen übers Gesicht liefen. Die Schwedin, die in Warendorf lebt, musste sich mit Silber begnügen. Sandra Auffahrt aus Ganderkesee in Holstein gewann mit ihrem Franzosenwallach Opgu Louvo sensationell die Bronzemedaille. Es ist der größte Erfolg, den deutsche Buschreiter je bei olympischen Spielen erzielt haben.
An seinem 30. Geburtstag, genau um 12.23 Uhr Londoner Zeit, hatten Jung und Sam mit einer Nullrunde im Parcours vor 20 000 Zuschauern die Goldmedaille für seine Equipe und die erste Goldmedaille für die deutsche Olympiamannschaft bei diesen Spielen schon vorzeitig perfekt gemacht. Der Kommentar des Geburtstagskindes fiel zu dieser Zeit typisch aus für den bodenständigen Schwaben: „Die Freude über das Gold kommt später, mein Geburtstag ist im Moment noch ganz weit weg. Ich konzentriere mich auf das Einzelspringen. Das mache ich hier wie bei jedem normalen Turnier zuhause.“
Hans Melzer, der Bundestrainer und „Goldschmied“ der deutschen Buschreiter, war restlos aus dem Häuschen: „Wenn man eine Mannschaft hat mit solch hervorragend ausgebildeten und agierenden Reitern und Pferden, kann man selbst olympische Spiele, trotz allem Stress und aller Hektik, in vollen Zügen genießen.“ Dann sagte Melzer die wichtigsten Sätze dieses triumphalen Tages: „Die Engländer hier zu schlagen, im Greenwich Park, in ihrem eigenen Land – das ist sensationell!“ Und spontan rückte dem Bundestrainer die Vergangenheit ins Gedächtnis:
„In Athen haben sie uns das Mannschaftsgold aberkannt, vor vier Jahren in Hongkong waren wir Olympiasieger und jetzt wieder. Unglaublich. Ich bin unhemlich stolz auf unser ganzes Team, auf alle, die ihren Anteil diesem großartigen Erfolg haben.“
Michael Vesper, der Chef de Mission der deutschen Olympiamannschaft, war eigens für die Finals in den Greenwich Park gekommen: „Das ist der Durchbruch für unsere Mannschaft. Zweimal Gold und einmal Bronze – unsere Reiter haben mich heute wieder total begeistert. Ich fühle mich an Hongkong erinnert, wo sie auch zweimal Gold geholt haben.“ Damals siegte der Holsteiner Hinrich Romeike – gestern hat Michael Jung mit dem Zahnarzt aus dem holsteinischen Nübbel gleichgezogen.
Als der deutsche Erfolg feststand, kam der hochgewachsene Brite William Fox-Pitt vorbei, gratulierte im Stil eines noblen und fairen Sportsmannes: „Well done, Hans!“ Etwas abseits stand der Engländer Chris Bartle, seit Jahren neben Hans Melzer verantwortlich für den Spitzenkader der deutschen Buschreiter und ihre Erfolge. Bartles Landsleute, die Equipe um Zara Phillips, der Enkeltochter der Queen, sowie um die Reitikone Mary King, mussten sich gestern mit einer Silbermedaille zufrieden geben. Mary King und Kristina Cook vergaben ihre Chancen auf Einzelmedaillen durch jeweils zwei Abwürfe. Die Enttäuschung im britischen Team war riesengroß.
Die logische Frage an Chris Bartle: Gibt es nicht Kritik in England, wenn einer der besten Reittrainer auf der Insel seit langem für die deutsche Konkurrenz arbeitet? Bartle lächelt nur vielsagend und sagt: „Es macht Spaß, für diese Mannschaft zu arbeiten. Unser Erfolg ist großartig.“ Mit Sicherheit werden Hans Melzer und Chris Bartle zum Jahresende ihre Verträge mit dem deutschen Reiterverband verlängern.
Schaut man auf die olympische Bestenliste der Vielseitigkeit, die früher Military hieß, so haben Ingrid Klimke, Sandra Auffahrt, Dirk Schrade, Michael Jung und Peter Thomsen gestern in London das vierte Mannschaftsgold nach 1936, 1988 und 2008 gewonnen. Neben dem Welt- und Europameister Michael Jung, von dem man einen fehlerlosen Parcours praktisch erwarten durfte, wuchs die erst 25-jährige Berufsreiterin Sandra Auffahrt auf ihrem Franzosenwallach Opgun Louvo mit einem fehlerfreien Ritt über sich hinaus: „Mein Pferd ließ sich trotz des anstrengenden Geländerittes gestern toll reiten, war wieder auf den Punk topfit. Als ich über die Ziellinie ritt, war ich sehr erleichtert.“ Als ihr Bronze sicher war, sagte sie: „Heute ist der schönste Tag in meinem bisherigen Leben.
Auch der Schwabe Dirk Schrade erwischte im Springen den richtigen Moment: „Diese fehlerfreie Runde hat mir gut getan. Ich bin einfach nur happy, dass wir Gold haben – meine ersten Spiele und dann der Sieg, einfach unglaublich.“ Dabei haderte Schrade keine Sekunde mehr mit der Tatsache, dass er am Tag zuvor im Gelände zehn Strafpunkte für Zeitüberschreitung hatte hinnehmen müssen: „Ich hab’s mir heute Nacht nochmal vor Augen geführt: Ich hätte nicht schneller reiten können, das wäre viel zu gefährlich geworden.“
Strahlend vor Glück zeigte sich im Augenblick des Erfolges auch der Holsteiner Peter Thomsen, der mit seinem Barney erst vor wenigen Wochen in Aachen ins Team gerutscht war:
„Ich bin überglücklich über meine zweite Goldmedaille nach Hongkong 2008. Es ist eine Freude für mich, ein Teil dieser Mannschaft zu sein, in der Pferde und Reiter einfach Weltklasse sind!“
Die Bronzemedaille ging an die Neuseeländer, die mit Mark Todd und Andrew Nicholson zwei Reiterlegenden in ihren Reihen haben. 1988, als Todd auf Charisma in Seoul Olympiasieger wurde, hatte er mit seiner Mannschaft schon einmal Bronze gewonnen.
Für Ingrid Klimke, die mit ihrem Abraxas nach zwei Abwürfen nicht mehr zum Einzelspringen antrat, war es das zweite Gold nach 2008. Ihre Mutter Ruth Klimke sagte: „Wenn ich die sechs Goldmedaillen meines verstorbenen Mannes Reiner Klimke hinzuzähle, dann hat unsere Familie jetzt achtmal Gold gewonnen.“ Michael Jung wird bereits heute nach Hause zurückkehren. Was der Doppel-Olympiasieger nicht weiß: Freunde und Fans bereiten für ihn Horb eine riesengroße Siegesparty vor.“