Der Kanadier Ian Millar ist seit München 1972 dabei – der olympische Weltrekord. Anfang Januar hat Ian Millar das Rentenalter erreicht.

Doch Begriffe wie Rente, Pension oder gar Nichtstun kommen in seinem Wortschatz, in seiner Selbstsicht gar nicht vor. „Ich habe, solange ich denken kann, mit Pferden zu tun – das wird so bleiben, solange ich lebe.“ Dabei ist dem 1,90-Meter großen, gertenschlanken Profireiter jegliches Pathos fremd: „Ich habe das Glück gehabt, in diesen mehr als vierzig Jahren immer Pferde zu besitzen, die die Klasse hatten, bei olympischen Spielen gut zu bestehen. Das ist alles.“ Souverän, bescheiden, weltläufig – das ist das Charisma des Ian Millar.

Wo immer er in diesen Tagen im Greenwich Park auftaucht – eine Frage wird häufig gestellt: München 1972, seine ersten, und London 2012, seine zehnten Spiele – wo liegen für ihn die Unterschiede? Der 65-Jährige antwortet so einfach, dass es jeder hippologische Laie verstehen kann: „Was mich beschäftigt und beeindruckt, das ist die Tatsache, wie sehr sich unser Sport gewandelt und entwickelt hat: Unsere heutigen Pferde sind mit denen von damals nicht zu vergleichen – intelligenter, geschickter, athletischer.“ Der weltweite Springsport sei längst ein Profisport.

Im Parcours sei es früher ausschließlich das Springvermögen gegangen, die Hindernisse hoch und höher, heute gehe es um technische Raffinessen, um Denksportaufgaben für die Reiter, die Sprünge bei weitem nicht mehr so hoch. Nur wer Pferde satteln könne, die dressurlich trainiert, die perfekt gymnastiziert seien, habe eine Chance. Deshalb reiste Millar in den späten Achtzigern zur Dressurlegende Reiner Klimke nach Münster, um von der deutschen Schule des Dressurreitens zu lernen und zu profitieren. „Natürlich war das Preisgeld früher weit von dem entfernt, was wir heute gewinnen können.“

Millar lächelt, seine Preisgelder, alles in allem, liegen bei mehreren Millionen Dollar. In der kanadischen „Hall of Fame“ des Sport ist er längst ein Held, eine nationale Legende; auch sein erfolgreichstes Pferd, der belgische Wallach Big Ben, ist dort verewigt. Eine Besonderheit. Der riesengroße Fuchs, Stockmaß einsachtzig, den man in der Szene scherzhaft „Giraffe“ nannte wegen seines ungewöhnlich langen Halses, hat seinen Reiter bei drei olympischen Spielen getragen: Los Angeles, Seoul und Barcelona. 1989 siegten die beiden im Großen Preis von Stuttgart in der Schleyerhalle, Millar erinnert sich sofort: „Jes, Stuttgart – realy a great Indoor-Show.“ Die kanadische Post widmete Big Ben, der 1999 eingegangen ist, sogar einen speziellen Stempel. Millar sagt:

„Big Ben war ein modernes Sportpferd, das heute noch konkurrenzfähig wäre. Ein Ausnahmepferd.“

Sportliche Höhen und private Schicksalsschläge – für Millar war es das Jahr 2008: Damals im März starb seine Frau Lynn nach kurzer Krankheit an Krebs. Im Herbst reiste der Witwer mit seinem Team zu den nach Hongkong ausgelagerten Reiterspielen. Im Preis der Nationen holten die Kanadier hinter dem US-Team Silber, für Millar die erste Medaille bei seinen neunten Spielen! Eine anrührende Geschichte.

Jetzt steht er vor seinen zehnten Spielen, mag den Blick zurück ohnehin nicht sonderlich – im Fokus liegen die kommenden Tage, heute um 11.30 Uhr deutscher Zeit läutet im Greenwich Park die Startglocke zum ersten Springen: „Ich sehe mehrere Equipen, die am Montagabend Olympiasieger sein können: Briten oder Franzosen, Iren oder Deutsche, Schweizer oder Amerikaner.“ Sein Team nennt er nicht. Den Grund liefert Eric Lamaze, der Olympiasieger von Hongkong, der neben ihm sitzt:

„Ich habe, wie jeder weiß, im Frühjahr beim Turnier in Mailand meinen Hickstead verloren. Das war eine Tragödie für mich. Hier reite ich die erst neunjährige belgische Stute Derly. Ich bin nicht hergekommen, um mein Gold von Hongkong zu verteidigen.“

Auch der elfjährige Wallach Star Power, den Millar reitet, ein Pferd aus der niederländischen Zucht, besitzt noch nicht die große internationale Erfahrung. Diese Spiele sind sein erster Start nach Jahren, in denen er nicht mehr in Europa war. Er reist nicht mehr so viel wie früher, bevorzugt die lukrativen Hallen- und Freilandturniere in den USA und Kanada. Die Frage, ob Ian Millar in vier Jahren in Rio seine elften Spiele bestreiten will, dann wäre er neunundsechzig – diese Frage stellt man nicht. Der Respekt vor dem großartigen Ian Millar lässt den Mut vor dieser Frage sinken.

Aktuelle Anmerkung vom 29. September 2021: Für Ian Millar blieb es bei zehn olympischen Spielen.