Einen Nachmittag wie diesen habe ich lange nicht mehr erlebt. Grand Prix Spezial in der Soers – Entscheidung im Nationenpreis für die Dressurreiter. Über die starke Leistung von Sönke Rothenberger auf seinem Fendi geht es in einem früheren Blog. Hier und jetzt meine Stichworte zum Finale in diesem denkwürdigen Wettbewerb. 6300 Zuschauer sind begeistert, applaudieren herzlich – geben Charlotte Dujardin, Nanna Merrald und Charlotte Fry das gute Gefühl, hier in Aachen willkommen zu sein. Jessica gewinnt die Prüfung mit 81,021 Prozent vor Charlotte mit 80,787 und Nanna mit 80,340. „Lottie“ und ihr Everdale werden unterbewertet!

Die neun Galoppwechsel von Sprung zu Sprung zwischen den beiden Pirouetten auf der Mittellinie – einer der Knackpunkte im Spezial. Jessica von Bredow-Werndl hat als vorletzte Reiterin die Kampfansage der Konkurrentinnen angenommen und das Risiko sichtlich erhöht. Jetzt aber misslingen ihr diese neun Sprungwechsel. Wenig später, vor Kameras und Mikrofonen, sagt sie: „Das war ein Pilotenfehler!“ Klar, dass sie den Patzer auf ihre Kappe nimmt – alles andere wäre ja gelacht.

Irgendwie liegt da etwas in der Luft: Vor allem Charlotte Dujardin und Charlotte Fry fordern Jessica von Bredow-Werndl heraus. Dujardin präsentiert ihren Imhotep – das allein schon ist das Eintrittsgeld wert: Konzentriert, losgelassen das Pferd, aufmerksam in jeder Sekunde, auch spielerisch, ja charismatisch. Die Reitschule von Carl Hester gibt in der Soers ihre Visitenkarte ab. Fast scheint es so, als müsse sich Jessica darauf einstellen, eine Niederlage vor eigenem Publikum zu erleiden. Dass die US-Richterin Maria Colliander für „Lottie“ Fry und Everdale nur 77,553 Prozentpunkte gibt, ist eine Unverschämtheit!

Natürlich strahlt Jessica nach ihrem Ritt – Dalera spielt ihre Klasse aus (bis auf den Patzer). Siegprämie 12 000 Euro. Charlotte Dujardin bekommt 8000 Euro. Charlotte Fry noch 4500 Euro. Drei Pferde über der magischen Marke von 80 Prozent; „Lottie“ Fry hätte auch dorthin gehört. Die Gastgeber gewinnen den Nationenpreis, denn Frederic Wandres steuert seinen Bluetooth auf glatte 76 Prozent, dahinter Isabell Werth mit ihrem Quantaz (75,851 Prozent). Dass die Rheinbergerin anstatt neun fliegender Wechsel zwischen den Pirouetten elf zeigt, macht sie freiwillig. Sönke Rothenbeger wird Zehnter, ist für die morgige Kür nicht qualifiziert. So kann er seinen Fendi schonen. Auch gut.

Was mir gefällt: An der Weltspitze, die wir heute hier in Aachen gesehen haben, feiert die klassische Reitkunst ihre Triumphe. Und das ist gut so. Losgelassenheit und viel Schwung nach vorne. Einerwechsel, die einem Gänsehaut machen, etwa von Everdale. Piaffen und Passagen mit perfekten Übergängen von Dalera. Ebenso von Blue Horse Zepter. Starker Trab von Dalera und auch den anderen, der wirklich ein starker Trab ist. Starker Galopp von „Lotti“ Fry, der bereits zu ihrem Markenzeichen geworden ist. Und dazu leider, leider einige Richter, die selbst an einem solchen Nachmittag nicht den Mut haben, tief in ihre Punktekisten zu greifen. Wo ich Neuner geben würde und auch Zehner, da wagt man sich höchstens mal zu 8,2. Das ist frustrierend, um es offen zu sagen.

Ich meine: Von heute an hat auch der letzte Freund der klassischen Dressur bemerkt, dass wir jeden neuen Tag den Spielen von Paris näher kommen. Der Showdown beginnt. Ob’s bei der EM in Riesenbeck zum offenen Zweikampf zwischen Dalera und Glamourdale kommt? Schön wär’s. Aber Stand heute glaube ich das nicht. Wir werden uns gedulden müssen bis zu den olympischen Tagen von Paris.

Grüße aus der Soers. Mehr Infos unter wwwchioaachen.de