Stellen Sie sich, liebe Leserinnen und liebe Leser, einfach mal vor, wir säßen zusammen an unserem wöchentlichen Reiterstammtisch und einer von den Neunmalklugen würde plötzlich fragen: „Was glaubt ihr? Wen wird Otto Becker nominieren für die Springreiter-EM im September in Mailand?“ Ein tolles Thema. Jeder kann mitreden. Jede darf ausplaudern, wen sie am liebsten reiten sieht über die ganz hohen Sprünge. Manch einer wird vielleicht so frank und frei erklären, wen er gar nicht mag. Es ist halt fast so wie im Fußball: Am echten und wahren Reiterstammtisch finden wir nur Bundestrainer*innen, die es ganz genau wissen, ja, die es immer schon gesagt haben.
Heut‘ und hier tu‘ ich mal so, als säße ich mit am Stammtisch. Soll hinterher nur ja keiner kommen und sagen, es habe sich mal wieder um prima Stammtischniveau gehandelt. Von wegen. Erfahrung ist bekanntlich durch nichts zu ersetzen. Vorweg schon mal die aktuellen Fakten: Am Wochenende geht’s nach Hickstead in Sussex, wo die britische Reiterfamilie Bunn seit langen Jahren ein Turnier macht mit Nationenpreis und einem Großen Preis, der offiziell so heißt: „King George V. Gold Cup“. Für den Nationscup liegen 250 000 Euro an Prämien parat, für den Großen Preis immerhin 152 500 Euro.
Otto Becker, unser Bundestrainer, hat folgendes Quintett gemeldet: Altmeister Marcus Ehning, den Aachen-Sieger 2023, Gerrit Nieberg, den Aachen-Sieger 2022, Richard Vogel, den Stuttgart-Sieger 2022, Jörne Sprehe und Kendra Claricia Brinkop. Wer die Reserverolle spielen muss, erfahren wir morgen Abend; der Wettkampf beginnt am Freitag, 14.15 Uhr Ortszeit. Am Montag, so ist es uns angekündigt, werden Otto Becker und sein Springausschuss im Blick auf die Europameisterschaft eine sogenannte „Longlist“ veröffentlichen. Ich vermute mal, dass wir auf dieser Liste bis zu einem Dutzend Namen vorfinden werden.
Jetzt könnte ich es mir leicht machen und einfach mal den neun Namen umfassenden Olympiakader herunterrasseln: Ahlmann, Deusser, Ehning, Kukuk, Meyer-Zimmermann, Nieberg, Thieme, Wargers und Weishaupt. Dazu die drei Namen aus dem sogenannten Perspektivkader: Dreher, Eckermann und Stevens. Womöglich kommt auch der Name Schulze Tophoff zum Tragen.
Wohlgemerkt, die eigentliche Nominierung für Mailand hat noch Zeit. Am Montag geht’s zunächst einmal darum, diejenigen persönlich anzusprechen, die für Deutschland antreten sollen. Das ist zunächst einmal eine Ehre! Auch wenn das heutzutage (leider) nicht mehr die allergrößte Rolle spielt. Denn beim stets ratsamen Blick auf den internationalen Turnierkalender stoßen wir ja mit unseren Nasen drauf: Die EM in Mailand und das Rolex-Grand-Slam-Turnier in Calgary/Spruce Maddows finden an ein und demselben Wochenende statt. Na bravo!
Wer auch nur ein bisschen Ahnung hat von den Dingen besitzt, der weiß: In Calgary geht das Preisgeld in die Millionen, bei einer EM bleibt es im sechsstelligen Bereich. Der Grand Slam ist eine höchst lukrative Serie – die EM im vorolympischen Jahr ist ein sportlicher Fingerzeig im Blick auf die Spiele von Paris 2024. Fast könnte man zugespitzt sagen: Geld oder Ehre?
So, jetzt mal die Butter bei die Fische. Wer jetzt? Oder wer nicht? Ich leg‘ mich da mal fest. Mutig voran ohne Rücksicht auf Verluste, was die eigene Sachkunde im Auge aller anderen betrifft: Marcus Ehning und Jana Wargers, so sehe ich das, sind in Otto Beckers Hinterkopf gesetzt. Christian Ahlmann und Daniel Deusser scheiden hingegen aus, wollen lieber nach Kanada und/oder zur Global Tour. Janne Friederike Meyer-Zimmermann hat ihre Pferde nicht in allerbester Form. Schade. Andre Thieme, der EM-Titelverteidiger, hat zuletzt leider nicht restlos überzeugen können. Auch schade.
Gerrit Nieberg hätte die EM-Nominierung verdient. Für Richard Vogel käm’s womöglich etwas zu früh. Ludger Beerbaum sähe es bestimmt gerne, wenn Philipp Weishaupt und/oder Christian Kukuk dabei wären. (Einer von den beiden könnte ja nach Calgary. Das wäre salomonisch.) Andererseits: Otto Becker nominiert gerne das Quartett vom Nationenpreis in Aachen. Also wäre für diesen Fall der Südbadener Hansi Dreher mit von der Partie. Was richtigerweise zählt, ist natürlich die aktuelle Form der Pferde, weniger die Erfolge vergangener Zeiten.
Machen wir also nix vor: Die EM-Favoriten heißen für mich Großbritannien, Schweden, Frankreich und Belgien. Ottos Equipen haben anno 2023 noch nicht restlos überzeugt. Die Niederländer schwächeln zuletzt etwas. Die Eidgenossen haben in Aachen zurecht gewonnen – sie stecken aber in Mailand schwer unter Druck: Sie haben noch keine Fahrkarten für Paris, müssen die also bei der EM lösen. Ansonsten bleibt nur noch das Nationscupfinale in Barcelona im September. Ich drücke den Schweizern die Daumen – aber ob das reicht…
Also auf zum heiteren Rätselraten. Am Montag sprechen wir uns wieder.