„Danke Hamburg! Das Glück war heute auf meiner Seite!“ Die ersten Worte von Cassandra Orschel, der 29-jährigen „Hamburger Deern“, nach ihrem sensationellen Sieg im 91. Deutschen Springderby – kurz und bündig auf den Punkt gebracht. Das typische Hamburger Schietwetter hat dem Grasboden auf dem historischen Derbyplatz in Klein Flottbek mächtig zugesetzt, besonders dem Großen Wall, wo es gut drei Meter in die Tiefe geht und nur ein Galoppsprung bleibt auf die verdammte Palisade. Also gab’s den voller Sehnsucht erhofften 160. Null-Fehler-Ritt seit der Premiere von 1920 heute nicht. Viel wichtiger noch: Alle Reiter und Pferde kamen heil den Stall zurück.
Reden wir hier nicht lange um den heißen Brei herum: Das so traditionsreiche Springderby unweit der Elbe hat die großen Zeiten von Fritz Thiedemann, von Nelson Pessoa, Alwin Schockemöhle, Kurt Jarasinski, David Broome, Hugo Simon und Achaz von Buchwaldt – und nur diese wenigen zu nennen – schon lange hinter sich. Seit 2007 ist aus dem schwersten und längsten Parcours der Welt eine norddeutsche Meisterschaft geworden, beherrscht von den Aktiven aus Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern.
Internationale Topreiter trainieren heutzutage keine Pferde mehr fürs Derby, es ist ihnen schlichtweg zu teuer und zu aufwendig. Regionale und lokale Größen sehen ihre Chancen, halten die vor 102 Jahren von Eduard Pulvermann begründete Tradition hoch, feiern sich, ihre norddeutsche Reiterei und Pferdezucht mit Enthusiasmus – das Publikum pilgert in Scharen herbei, heute sollen es 25 000 gewesen sein. Ich nenne so etwas „Derbyfieber“. Verständlich, dass der Jubel keine Grenzen kennt, wenn die gebürtige Hamburgerin Cassandra Orschel mit ihre Holsteiner Stute Dacara gewinnt, in Tränen aufgelöst kaum Worte findet. 30 000 Euro Siegprämie und die hippologische Unsterblichkeit sind der verdiente Lohn. 1975, also vor 47 Jahren hatte Caroline Bradley auf New Yorker gewonnen, seitdem keine Frau mehr.
Dabei hatte dieses 91. Derby ziemlich mies begonnen, nicht nur wegen des Wetters. Die ersten beiden Reiter scheiterten sang und klanglos oben auf dem Wall. Das ist schon mal, wir erinnern uns, Ludger Beerbaum passiert, der für diesen Fall vorgesorgt hatte: Er zog ein weißes Taschentuch aus seinem Reitrock und schwenkte es zum Zeichen seiner Aufgabe. Heute gab’s für die nächsten drei Starter 20, 24 und 32 Strafpunkte. Dermot Lennon, der Weltmeister von 2002, stürzte unten am Wall und musst die Arena zu Fuß verlassen. Andre Thieme, der Topfavorit, wäre mit seinem Contadur am gefürchteten Buschoxer fast schwer gestürzt. Aus seinem vierten Sieg nach 2007, 2008 und 2011 wurde nichts.
Einige Debütanten mussten heftig Lehrgeld bezahlen. Andere bekamen tollen Applaus: etwa der 67-jährige Karl-Heinz Markus, der mit seinem neunjährigen Holsteiner Cuck auch 20 Strafpunkte sammelte, aber weil er, von Sandra Auffarth trainiert und ermutigt, den Beweis dafür lieferte, dass man das Reiten bis ins höhere Alter aktiv bestreiten kann: „Gegen Ende des Parcours ist mir etwas die Luft ausgegangen“, bekannte er freimütig. Im nächsten Jahr möchte er wieder dabei sein – denn das ist ja schließlich alles.
Kritischer Nachsatz: Von den 28 Pferden auf der Startliste kamen acht nicht ins Ziel.Weitere acht handelten sich 20 und mehr Fehler ein. Nicht alle Pferde erwiesen sich als geeignet für diesen so besonderen Kurs. Im Vierer-Stechen schaffte nur Cassandra Orschel eine Nullrunde, Frederic Tillmann, dessen Bruder Gilbert 2013 auf Max gewonnen hat, wurde auf Comanche Zweiter vor Andre Thieme mit Cotadur und Sandra Auffarth mit La Vista. Ich sag’s mal so: Dieses Deutsche Springderby ist, rein sportlich betrachtet, eigentlich aus der Zeit gefallen. Beim Zuschauen braucht’s in allerhand Momenten ziemlich gute Nerven. Wenn man die Passion der norddeutschen Reiter sieht, die Begeisterung ihrer Fans im Stadion, ihre Leidensfähigkeit trotz miesem Wetter – dann, ja dann blickt man gespannt voraus auf das 92. Derby in 2023 und drückt die Daumen für den 160. fehlerlosen Ritt.