Vor einem Jahrzehnt, im Februar 2013, ist mein Buch „Michael Jung – Vielseitig zum Doppelgold“ erschienen. Es schildert den sagenhaften Aufstieg des Jahrhunderttalents aus Horb-Altheim zum Olympiasieger von London 2012. Ohne den Württemberger Wallach Sam und dessen Züchter, den schwäbischen Tüftler und Autodidakten Günter Seitter, hätte es diese legendäre Sportkarriere gar nicht gegeben. Vor wenigen Tagen ist Günter Seitter nach kurzer, schwerer Krankheit im Alter von 68 Jahren gestorben.

Günter Seitter, in Aidlingen unweit von Sindelfingen geboren, war der Sohn eines Hufschmieds. Als Kind begleitete er seinen Vater oft, schaute ihm über die Schulter, half ihm beim Beschlagen der Pferde. Sein Vater hatte ihn geprägt: „Mein Vater war fleißig und bescheiden, seine Arbeit war hart. Geld hatte unsere Familie nicht. An das Reiten oder gar an eigene Pferde war nicht zu denken. Mein Schlüsselerlebnis als Kind war ein Sonntagsausflug nach Marbach, ins Haupt- und Landgestüt. Diese wunderbare Welt der Pferde, die Weiden, die Hengste, die Gestüter,  das steinerne Grab des berühmten Hengstes Julmond – all das hat mich fasziniert. Ich wollte da irgendwie mitmachen, wollte dazugehören – ohne genau zu wissen wie.“

1988 wird für Günter Seitter sein „Jahr der Erweckung“: „Ich hatte mich entschlossen, Pferde zu züchten, Bescheiden, nur so als Hobby. Ich ging mit Herzblut zu Werke, hatte unzählige Bücher gewälzt, mit anderen Züchtern gefachsimpelt, mich informiert, wo es nur ging: auf Auktionen, Hengstschauen, Körungen, Turnieren, in der Fachpresse.“ Sein erstes eigenes „Produkt“ ist ein Hengstfohlen aus der Marbacher Zucht.

Nur wenig später begann für Günter Seitter die schier unglaubliche Geschichte, die über kuriose Zufälle, über Glück und Beharrlichkeit, nicht zuletzt über die herausragende Reitkunst von Michael Jung zu einem Reiter und seinem Pferd führt, die heute selbst Legende sind. Günter Seitter kaufte bei dem großen Hippologen Werner Schockemöhle eine Stute. Der sagt zum Schwaben: „Decken Sie mit Vollblütern, wir brauchen mehr leichte und edlere Pferde!“

Dann wieder so ein unerklärlicher Zufall. Günter Seitter schilderte die schicksalhafte Begebenheit so: „Eines Tages war ich mal wieder in Marbach. Da fuhr plötzlich ein Transporter vor und beim Entladen kam ein ausdrucksvoller Fuchshengst zum Vorschein, schaute mich neugierig an – das war’s“ Bei diesem Hengst handelte es sich um den Vollblüter Stan the man xx, den der Balinger Unternehmer und Holsteiner-Züchter Günter Kraut Anfang der neunziger Jahre in Irland gekauft hatte, um ihn der Landeszucht und besonders dem Haupt- und Landgestüt zur Verfügung zu stellen.

Am 10. März 2000 kam im kleinen Stall von Günter Seitter in Aidlingen ein Hengstfohlen auf die Welt. Später berichtete er mir: „Ich weiß noch als wäre es gestern gewesen: Als dieses Fohlen kommen sollte, habe ich im Schlafsack auf einer Matratze im Stall gewacht.“ Zwei Jahre später bringt der stolze Züchter seinen Hengst, dem er den Namen „Sam the schwäbisch man“ gegeben hat, zur Körung nach Marbach. Stockmaß 1,63 Meter. Urteil der Körkommission: „Unbedeutend, großer Kopf!“ Bitter enttäuscht, handelt sein Züchter sofort, lässt seinen Sam tags darauf von Uwe Heckmann versteigern – als letzten der nicht gekörten Hengste. Seitter ist froh, dass er von der bayerischen Reiterfamilie Kreuter noch 8000 Euro bekommt.

Damit beginnt die Geschichte eigentlich erst so richtig. Wer sie in meinem Buch präzise nachlesen möchte, dem empfehle ich, so rasch es geht, im Internet die Seite www.zvab.de aufzurufen. Es geht dabei um das Zentrale Verzeichnis antiquarischer Bücher. Dort findet sich noch eine Handvoll Exemplare meines Buches von 2013. Wer zuerst kommt, der mahlt zuerst!

Günter Seitter lebt nicht mehr. Nach kurzer, schwerer Krankheit ist er leider allzu früh gestorben. In guter Erinnerung bleibt er mir als typischer Schwabe, der „beim Daimler“ und bei der IBM geschafft hat, der seine Passion zu den Pferden intensiv gelebt hat bis in seine letzten Lebenstage, der unbeirrt blieb, wenn er von etwas überzeugt war: Ohne diese Eigenschaft hätte er die Reiterfamilie Jung letztendlich nicht davon überzeugen können, den vom ihm gezüchteten Sam in ihren Beritt zu nehmen. Der Rest ist bekannt, ist inzwischen Sportgeschichte.

Ich denke in diesen Tagen an Günter Seitter, seine Frau und seine Familie. Pferdezucht und Pferdesport bräuchten mehr Züchter wie ihn – Menschen voller Leidenschaft für die Pferde, mit Augenmaß und Mut zum Risiko, mit einem Blick für die Pferde und für die Menschen, denen sie ihre Pferde anvertrauen können. So war übrigens auch Emilie Betz, die vor Jahren gestorbene Züchterin aus Reutlingen. Als Günter Seitter seinerzeit so bitter enttäuscht in Marbach stand, nachdem sein Sam nicht gekört worden war, sagte sie zu ihm: „Herr Seitter, glauben Sie mir: Sie haben ein besonderes Pferd!“