Als Nelson Pessoa, mittlerweile 87 Jahre alt, am vergangenen Sonntag plötzlich in Marbach auf dem Paradeplatz stand, um „seine“ australischen Buschreiter um Andrew Hoy zu betreuen, deren Trainer er ist – da erkannte ihn kaum jemand. Wer aber, sagen wir mal, älter ist als fünfzig Jahre, der oder die haben die brasilianische Reiterlegende noch aktiv im Sattel gesehen. Ob Nelson Pessoa am Sonntag zu Gast sein wird beim 92. Deutschen Springderby in Hamburg, das weiß ich nicht. Eines aber weiß ich: Wenn er dort über den Platz liefe, würden ihn viele erkennen, auch die Jüngeren. Denn der wunderbare  Nelson ist dort Kult, hält einen Derbyrekord für die Ewigkeit. 

Ich weiß, ich weiß: Viele meiner Leserinnen und Leser halten wenig bis nix von Statistik und vom Blick ins Archiv. (Ich werd‘ im September 75 und halte umso mehr von Geschichte – im großen wie im Kleinen. Denn ohne unsere Vergangenheit haben wir keine Zukunft!)

Zurück zu Nelson Pessoa: 1962, man glaubt es kaum, gewann er auf einem Blutpferd namens Espartaco zum ersten Male das Derby. 1963, 1965 und 1968 gewann er auf der geschmeidigen Schimmelstute Grand Geste, 1992, 1993 und 1994 stand er mit dem mächtigen Braunen Vivaldi ganz vorne, den obligaten Siegerkranz trugen seine Pferde um den Hals. Am Ende seiner glanzvollen, wenngleich auch kuriosen Karriere, sagte Nelson: „Diese Derbysiege waren meine schönsten Erfolge.“ Eine olympische Medaille gewann er nicht, auch keinen WM-Titel. 1966 wurde er in Luzern Europameister, weil das Championat damals weltweit offen ausgeschrieben war.

Wer wie ich Fritz Thiedemann noch aktiv erlebt hat (im Jahnstadion von Ludwigsburg) und sich daran erinnern kann, der darf sich glücklich schätzen. Schon 1961 hat der Landwirtsohn aus Dithmarschen seine Laufbahn beendet, weil seine Wirbelsäule nicht mehr mitspielte und er im Sattel unter Schmerzen ein Korsett tragen musste. Auch sein Derbyrekord hält für die Ewigkeit – das ist der Grund: 1950 holte „Fritze“, wie ihn seine Freunde nannten, mit Loretto den ersten Derbysieg. 1951 siegte er auf Meteor, 1952 auf Finale, 1954 auf Diamant und 1959 auf Retina. Fünf Siege also auf fünf verschiedenen Pferden! 2000 ist Thiedemann gestorben. Posthum zieh‘ ich meinen Hut!

Auch Hugo Simon hat fünfmal das Derby gewonnen, allerdings mit „nur“ vier Pferden: 1977 auf Little One, 1983 und 1984 auf Gladstone, 1995 auf ET und 1997 auf Gardoso. Ludger Beerbaum siegte leider nur zweimal: 1998 und 2003 auf seinem Schimmelhengst Champion de Lys. Eines Tages, ich weiß nicht mehr, wie sein Pferd damals hieß, musste er ganz oben auf dem Großen Wall einen Steher hinnehmen.

Genauer gesagt, sein Pferd weigerte sich standhaft, den verdammt steilen Abgrund hinunter zu rutschen. Die alberne Holzplanke, die nur einen Galoppsprung entfernt steht, strafte Ludgers Pferd mit Todesverachtung. Nach einer Weile, der Richter hatte schon die Hand an der Glocke, um den großen Meister abzuläuten – da machte Ludger, worauf er sich ganz offensichtlich vorbereitet hatte: Er zog aus seinem Reitrock ein leuchtend weißes Taschentuch und schwenkte es mit strahlendem Lächeln, sodaß man es über den ganzen Platz sehen konnte. Die „weiße Fahne“ zum Zeichen der Aufgabe bejubelte das Hamburger Publikum, als hätte Ludger soeben gewonnen. Wie soll man das nennen? Ich nenne es Grand Geste in der Niederlage!

Am Sonntagnachmittag geht’s vor ausverkauftem Derbyplatz zur 92. Austragung. Etwas mehr als 50 Reiter*innen bewarben sich heute in der zweiten Qualifikation um einen Startplatz. Sehr wahrscheinlich werden nur vier ehemalige Derbysieger am Sonntag dabei sein: Casandra Orschel, eine „Hamburger Deern“, die für Polen reitet, weil ihre Mutter von dort stammt. Casandra siegte vor einem Jahr sensationell. Ob sie mit dem Erwartungsdruck ihrer hanseatischen Fans fertig wird, werden wir sehen.

Andre Thieme, der Europameister, Derbysieger von 2007, 2008 und 2001, hatte offenkundig aufs falsche Pferd gesetzt – sein Contadur mag den Buschoxer nicht. Nun probiert er’s mit Paule, einem neunjährigen Greenhorn. Ob das schlau ist, wage ich zu bezweifeln. Der Argentinier Patricio Muente siegte 2017 auf Zara nach der einzigen fehlerfreien Runde, diesjahr sattelt er Varenne. Bliebe noch Gilbert Tillmann, der Sieger von 2013 auf Hallo Max. Unterdessen träumt Sandra Auffarth, die die eigentlich anstehende Buschtour nach Baborowko ausgelassen hat, vom Derbysieg auf La Vista, einer 14-jährigen hannoverschen Stute. Wie auch immer, einmal mehr kommt es auf dem Derbyplatz (fast) zu einer nord- und ostdeutschen Meisterschaft. Seit 2007 beherrschen die Einheimischen das Terrain – mit ganz wenigen Ausnahmen.

Heute am späten Nachmittag kennen wir das Starterfeld. Wer’s präzise sehen will, dem rate ich zu www.longinestiming.com/Equestrian.