Das Finale um die Springreiter-EM, gestern in Mailand, verlief ziemlich spannend. Aber gegen die Dressur-EM, die übermorgen in Riesenbeck beginnt, war das, was sich auf dem Ippodromo San Siro abgespielt hat, nur ein laues Lüftchen. Echt jetzt! Auf dem Dressurviereck an der historischen Surenburg verengt sich alles auf nur eine einzige Frage: Jessica oder Charlotte, Dalera oder Glamourdale, Stute oder Hengst? Seit 1963, seit der allerersten EM, damals in Kopenhagen, reduzierte sich noch kein international wichtiger Wettkampf auf dem Dressurviereck auf so einen Zweikampf: Eine Olympiasiegerin gegen eine Weltmeisterin. Hollywood hätte es nicht besser arrangieren können.
Beginnen wir, wie ich das gerne tue, mit dem aufschlussreichen Blick in die Annalen. Kopenhagen 1963. 16 Reiter aus acht Nationen treten an zur ersten Europameisterschaft der Dressurreiter – eine wahrhaft bescheidene Premiere: Der Schweizer Henri Chammartin, ein Offizier der Eidgenössischen Militärpferdeanstalt in Bern, gewinnt auf Wolfdieter mit haushohen 1517 Punkten vor Harry Boldt aus Iserlohn auf Remus mit 1414 Punkten. Platz drei geht wiederum an Hanri Chammartin auf Woerman mit 1356 Zählern. Die noch inoffizielle Teamwertung geht an die Briten vor den Rumänen. Mehr waren gar nicht am Start. Die Details erspare ich uns.
Zwei Jahre später, wieder in Kopenhagen, waren es zur EM erneut nur 17 Reiter aus sieben Nationen. Wieder siegte Chammartin auf seinem Wolfdietrich vor Harry Boldt und Reiner Klimke. In der ersten offiziellen Teamwertung standen Boldt, Klimke und Neckermann zum ersten Male ganz oben auf dem Treppchen vor den Eidgenossen und den Rumänen.
Für die deutsche Dressurreiterei begann damals eine Ära, die wohl einmalig bleibt in der Sportgeschichte: 25mal haben „unsere“ Dressurstars bei Europameisterschaften den Titel gewonnen, 19mal ging auch das Einzelgold nach Deutschland. Wohlgemerkt, am Mittwoch startet in Riesenbeck die 31. EM seit 1963!
Noch ein kurzer Schwenk in die Geschichte: Bis 1991 bestanden die Europameisterschaften nur aus dem Grand Prix (für die Teams) und dem Grand Prix Spezial (für die Einzelmedaillen). Damals, vor dem Schloss der Fürstenberger in Donaueschingen, kam eine Kür-EM dazu. Damit war eine neue Ära eingeläutet. Ein wichtiges Detail: 1991 und 1993 waren der Spezial und die Kür getrennt – die Aktiven mussten sich für das eine oder das andere entscheiden. In der klassischen Tour von 1991 siegte Isabell Werth auf Gigol0 – es war der Beginn ihrer Weltkarriere! Die Kür-EM gewann Sven Rothenberger auf Andiamo.
Von 1995 bis 2005 wurde die Team-EM im Grand Prix entschieden, die Einzel-EM aus der Addition von Grand Prix, Spezial und Kür. Seit 2007 haben wir neben der Mannschafts-EM zwei getrennte Einzeltitel: einen im Spezial, also der klassischen Tour, und einen in der Kür. Im Spezial sind 25 Pferde zugelassen, in der Kür nurmehr 15. Isabell Werth ist siebenmal Europameisterin gewesen im Spezial, zweimal in der Kür – Rekord! Reiner Klimke siegte dreimal, Liselott Linsenhoff zweimal in der alten Form. Dreimal holte sich Anky van Grunsven den EM-Titel. Unter den Titelträger*innen liest man auch Namen wie Sissi Max-Theurer, Uwe Schulten-Baumer, Anne Grethe Jensen, Adelinde Cornelissen und Charlotte Dujardin.
Als Titelverteidigerin aus dem Jahr 2021 bei der EM auf dem Hof Kasselmann in Hagen reist Jessica von Bredow-Werndl, die Olympiasiegerin von Tokio, mit ihrer jetzt 16-jährigen Dalera nach Riesenbeck. Auch das Mannschaftsgold ging vor zwei Jahren an das von Monica Theodorescu geführte Quartett, zu dem auch Isabell Werth, Dorothee Schneider und Helen Langehanenberg gehörten. Die letzte Niederlage der deutschen Dressurstars resultiert aus dem Jahr 2015 in der Soers. Damals war ja die Geschichte mit Totilas – Sie erinnern sich.
Manche von Ihnen, die das hier lesen, werden sagen: Schluss mit der Rückschau! Lass‘ uns nach vorne schauen! Gesagt, getan: Vor einem Jahr bei der WM in Herning ist der Stern von „Littie“ Fry und ihrem Rapphengst Glamourdale aufgegangen. Der Hengst aus dem Besitz der niederländischen Alt-Internationalen Anne van Olst, Decktaxe übrigens 2200 Euro, ist jetzt zwölfjährig – ein spektakulär trabender und galoppierender und piaffierender und passagierender Hingucker! Seine Reiterin ist 27 Jahre jung, entdeckt vom Toptrainer Carl Hester, der diesjahr mit im britischen Team reitet. Sein Plan und der von Charlotte Fry ist schlicht und einfach: Einzelgold bei Olympia in Paris!
Diesem Ziel ordnen die Briten alles unter. Bisher sind sie dem Duell mit Dalera und Jessica von Bredow-Werndl aus dem Weg gegangen – Taktik ist (fast) alles. Nun wollen sie in Riesenbeck ein Zeichen setzen. Noch steht Jessica an der Spitze der aktuellen Weltrangliste. Gleich dahinter „Littie“ Fry. Ein Erfolg für die Britin, deren 2012 verstorbene Mutter Laura bei Olympia 1992 Rang 29 in der Dressur belegte, wäre ein weltweites Zeichen, wer vor dem Schloss von Versailles als klare Favoritin anzusehen sei.
Jessica von Bredow-Werndl nimmt die Sache ganz cool. Bei der WM in Herning vor einem Jahr musste sie passen, brachte während der WM ihr zweites Kind zur Welt, eine Tochter. Jessica ist 37, also genau zehn Jahre älter als ihre Herausforderin. Interessant zu sehen: Die Trakehnerstute Dalera steht in Schweizer Besitz, gehört der ehemaligen Toprichterin Beatrice Büchler-Keller, die einst selbst bis zum Grand Prix geritten hat.
Blickt man auf den Wetterbericht, so steht uns diese Woche in Riesenbeck ein sonniger Spätsommer bevor. Am Donnerstag, im zweiten Grand-Prix-Teil, treffen Jessica und „Littie“ zum ersten mal aufeinander, am Freitag im Spezial und am Sonntag in der Kür – wenn alles nach Plan verläuft. Hoffen wir, dass beide Pferde sicher durch den ersten Vet-Check kommen. Und hoffen wir, dass sich das Team um Charlotte Fry und Anne van Olst, der der Hengst gehört, es sich nicht im letzten Augenblick nochmal anders überlegen. Dann würde der Hengst Everdale gesattelt.
Soviel Spannung war selten.