Am legendären Stadion San Siro in Mailand gießt es in Strömen. Trotzdem soll dort am Mittwoch die 37. Europameisterschaft der Springreiter beginnen. Ehe es soweit ist, liebe Leserinnen und Leser, möchte ich Sie einstimmen auf diese Generalprobe im Blick auf die Olympischen Spiele in einem Jahr vor dem Schloss von Versailles. Sie meinen, das sei doch noch ziemlich lange hin. Das sehe ich, offen gestanden, ganz anders. Wir alle wissen doch aus langer Erfahrung, wie schnell so ein Jahr vergeht. Und wir wissen, dass da, wo Pferde sind, sich binnen einer Sekunde ändern kann.

Rotterdam im Sommer 1957. Der Weltverband der Reiter, die FEI, hat die niederländische Hafenstadt auserkoren, um ein mutiges Experiment zu wagen – die erste Europameisterschaft der Springreiter. Wer heute in die Annalen schaut, der muss darüber schmunzeln: Nur acht Reiter aus fünf Nationen waren am Start. Kein Witz! Es drohte der Flop. Wahrscheinlich war die FEI am Ende aber doch zufrieden, denn das Resultat zeigte für sie in die goldrichtige Richtung: HG Winkler, der Olympiasieger von 1956, siegte mit seinen Pferden Halla und Sonnenglanz.

Silber sicherte sich der französische Offizier Bernard de Fombelle auf Bucephale und Buffalo, dahinter der Spanier Salvatore Oppes auf Pagoro. Alle drei zählten in den fünfziger Jahren zu den Besten der Besten. Rein sportpolitisch war es gewiss gut, dass die FEI nach vorne blickte und für 1958 sogleich die nächste EM ausschrieb. Diesmal war Aachen an der Reihe: 24 Reiter aus 13 Nationen – das hörte sich schon besser an. Und wir dürfen mehr als zufrieden sein: Fritz Thiedemann siegte auf Meteor, gefolgt von Piero d’Inzeo auf The Rock und HG Winkler auf Halla. (Die Regeln waren absolut kurios, deshalb erspare ich uns die nähere Erläuterung.) Anno 2023 sind es 87 Aktive aus 24 Nationen.

An dieser Stelle fasse ich die Historie einmal kompakt zusammen: 15mal ging der EM-Titel der Einzelreiter bis heute nach Deutschland, sieben Mal siegten deutsche Equipen; die Mannschafts-EM gibt es übrigens erst seit 1975. Und wichtig zu wissen: Von 1957 bis 1973 gab es eine eigene Europameisterschaft für die Amazonen. In den Annalen finden wir vier Siege für die Britin Pat Smythe – aber keine deutsche Dame ganz vorne. Die unvergessene Helga Köhler holte 1962 in Madrid Silber, ebenso Anna Clement 1958 in Palermo und Bronze 1959 in Rotterdam. Von 1975 an reiten Damen und Herren gegeneinander. Das war damals eine weise Entscheidung der FEI.

Wer sich für die kompletten Annalen interessiert, dem sei das Internat empfohlen. Hier und heute möchte ich noch an ein paar Besonderheiten erinnern. Beispielsweise an 1966: In Luzern, am wunderschönen Vierwaldstätter See, organisierten die weltoffenen Eidgenossen eine „weltoffene“ Europameisterschaft. Bis heute die erste und einzige. Das Ergebnis konnte klarer nicht sein: Nelson Pessoa siegte auf dem legendären Schimmel Grand Geste, gefolgt vom US-Profi Frank Chapot auf Good Twist und dem argentinischen Rechtsanwalt Hugo Arrambide auf Chimbote. (Diese drei Größen hab‘ ich in jenen sechziger Jahren als Bub im Jahnstadion von Ludwigsburg gesehen, wo die großartige Turnierfolge Ludwigsburg, Wiesbaden, Hamburg eine Station hatte.)

In den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, viele erinnern sich, setzte Paul Schockemöhle mit seinem Deister ein bis heute unerreichtes Zeichen: Drei EM-Titel hintereinander – 1981, 1983 und 1985! Chapeau! Ludger Beerbaum war 1997 mit Ratina Z und 2001 mit Gladdys Europameister. Zu „unseren“ Titelträgern zählte auch Hermann Schridde (1965 mit Dozent), Hartwig Steenken (1971 auf Simona), Alwin Schockemöhle (1975 auf Warwick Rex), Christian Ahlmann (2003 auf Cöster), Marco Kutscher (2005 auf Montender), Meredith Michaels Beerbaum (2007 auf Shutterfly) und Andre Thieme (2021 auf Chakaria). Schade, dass der Titelverteidiger vor wenigen Tagen für Mailand passen musste.

Die spannende Geschichte der Mannschafts-EM beginnt 1975 auf dem Olympia-Reitgelände in München mit einem deutschen Erfolg: Alwin Schockemöhle auf Warwick Rex, Hartwig Steenken auf Erle, Sönke Sönksen auf dem Iren Kwept und Hendrik Snoek auf Rasputin verwiesen die Eidgenossen um Paul Weier und die Franzosen um Gilles Bertran de Ballanda auf die Plätze.

Besonders hervorheben muss man die EM 2003 im Schlosspark von Donaueschingen: Der EM-Titel ging an Marcus Ehning auf For Pleasure, Christian Ahlmann auf Cöster, Otto Becker auf Dobels Cento und Ludger Beerbaum auf Goldfever. Die Reihenfolge in der Einzelwertung: Ahlmann vor Beerbaum und Ehning. Ein einmaliger Erfolg.

Und 2023? Die nächsten Tage werden spannend. Hoffentlich stabilisiert sich das Wetter über Norditalien. Sonst wird’s echt kritisch. Bleiben wir zuversichtlich. Und bleiben Sie neugierig.

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