Marcus Ehning gewinnt zum dritten Mal den Großen Preis von Aachen. Ludger Beerbaum rührt Tausende zu Tränen, verabschiedet sich spontan vom Springreiten auf der ganz großen Bühne. Der umstrittene McLain Ward nimmt seine Stute Azur aus dem Sport. Simone Blum verabschiedet ihre WM-Siegerin Alice, Ingrid Klimke ebenso ihren Hale Bob. Jessica von Bredow-Werndl schafft mit ihrer Dalera das Triple. Beim „Tschio“, wie die Aachener ihr Reitturnier liebevoll und selbstbewusst nennen, gab’s auch 2023 wieder einen starken Hauch der Sportgeschichte.
Am 26. August wird in Riesenbeck mächtig gefeiert: Ludger Beerbaum wird sechzig! Ob’s wirklich so kommt, weiß ich gar nicht so genau. Vielleicht entgeht der heute noch 59-Jährige ja auch all dem zu erwartenden, womöglich von ihm selbst befürchteten Trubel, indem er mit seiner Familie einen unbekannten Ort aufsucht, um einmal in aller Ruhe unter sich zu sein. Ich tät’s ihm gönnen. Denn die beiden letzten Jahre waren keine leichte Zeit für den Reiter, der Geschäfte macht und/oder den Geschäftsmann, der reitet. Ganz wie man will.
Nach einem wunderbaren Zufall hat Ludger Beerbaum am Sonntag vor 40 000 in der Soers das Mikrofon in die Hand genommen und etwas gesagt, was ihm gewiss unheimlich schwer gefallen ist: Sein Freund Marcus Ehning hatte soeben zum dritten Male den Großen Preis von Aachen gewonnen – selten sah man den bescheidenen Mann aus Borken so ausgelassen, so überwältigt von unbeschreiblicher Siegesfreude. Auch Marcus mit Tränen in den Augen. Zwei große Sportler, deren Siege und Niederlagen, deren sportliche Höhen und Tiefen wir über Jahrzehnte miterlebt haben.
Ludger war 1992 in Barcelona Olympiasieger, Marcus wurde es 2000 (übrigens mit Otto Becker) in Sydney. Beide haben den deutschen, auch den internationalen Springsport mitgeprägt. Dasselbe lässt sich sagen über Rodrigo Pessoa: Vierter Platz im Großen Preis 2023, erneut ein Höhepunkt in einer Karriere, die der 50-Jährige im Kindesalter begonnen hat. Wie Rodrigo, heute mit etwas mehr Körperfülle als früher, über die Hindernisse reitet – für mich ist das ganz große Reitkunst.
Als McLain Ward nach Abwürfen zu Beginn seines Rittes durchparierte, die Hand hob zur Aufgabe – da fiel mir ein, dass genau dieser McLain Ward vor zwei Jahrzehnten in der Soers den selbst verschuldeten Tiefpunkt seiner Karriere erdulden musste. Der 47-Jährige ist heute ein anderer als er damals war, er hat seine Lektion gelernt.
Für Jessica von Bredow-Werndl ist in diesen Tagen ein Kindheitstraum wahr geworden, so sagt es die 37-Jährige selbst: Als Siegerin des Triple aus Grand Prix, Spezial und Kür auf den großen Tafeln am Richterhaus verewigt zu sein – Capeau! Jessica weiß, dass sie seit ihrem Olympiasieg von Tokio das Maß der Dinge ist auf dem Dressurviereck. Und sie weiß, dass die ehrgeizigen jungen Frauen aus Dänemark und Großbritannien alles daran setzen, um übers Jahr in Paris zumindest mit ihr auf dem Podest zu stehen, am liebsten aber vor ihr auf den Treppchen, die im Sport die Welt bedeuten.
Weil die Konkurrenz das Geschäft belebt, sind die internationalen Wettkämpfe auf dem Viereck so besonders spannend und anregend. Charlotte Dujardin und Charlotte Fry, Nanna Merrald und Frederic Wandres, Carina Krüth und all die anderen verkörpern für mich ebenfalls die klassische Reitkunst heutiger Prägung. Isabell Werth stellt sich gegen Ende ihrer beispiellosen Karriere immer wieder der Herausforderung. Das fällt ihr heute nicht so leicht wie während der vergangenen drei Jahrzehnte. Nochmal Olympia, nochmal Paris – das scheint mir das Ziel der 53-Jährigen zu sein. Ein angemessener Abschied vom großen Sport.
Alles in allem. Weltfest des Pferdesport. Diesem selbstgewählten Anspruch ist man in der Soers auch anno 2023 wieder gerecht geworden. Aber was so selbstverständlich erscheint, wenn man das größte Reitturnier der Welt ist, bedeutet in Wahrheit enorm viel Arbeit für hunderte von Haupt- und Nebenamtlichen, bedeutet enormes Engagement für die alte Kaiserstadt, ihre politisch wie wirtschaftlich Verantwortlichen. Im Juli 1924 hat’s in der Soers das erste kleinere Turnier gegeben. Im Juni 2024, kurz vor den Olympischen Spielen, feiert man in Aachen das einhundertste Gründungsfest. Wieder geht es um die Historie. Und wieder wird Geschichte geschrieben.
Hoffentlich in einer besseren, einer friedlicheren Welt als sie es heute ist.