Heute vor 50 Jahren gab’s bei den Olympischen Spielen von München den Geländeritt. Er führte, man glaubt es kaum, über 30,4 Kilometer, unterteilt in vier Abschnitte. Kein Witz! Austragungsort war das Dorf Poing im Münchner Umland. Ein halbes Jahrhundert danach lohnt es sich, an diesen Wettkampf zu erinnern – nicht zuletzt, weil in der Zwischenzeit aus der martialischen Military die sportliche Vielseitigkeit geworden ist.
Dem trefflichen Schweizer Journalisten Max Ammann verdanken wir Zeitgenossen von heute das Protokoll dieser olympischen Military von 1972. In seinem Standartwerk „Geschichte des Pferdesports“ von 1976 findet sich alles, was man wissen muss, um diese historische Military einigermaßen verstehen und nachvollziehen zu können.
Fangen wir mit den rein technischen Daten an: Es begann mit einer sogenannten Wegestrecke über 3600 Meter, zu reiten in einem Tempo von 240 Metern/Minute. Also im Trab. Danach folgte – nach kurzer Pause – die Rennbahn: 3600 Meter mit zwölf Hindernissen, zu reiten im Tempo von 600 Metern/Minute, also im Renngalopp. Abschnitt C bestand aus nicht weniger als 15 170 Metern neuerlicher Wegestrecke, zu reiten wieder im Tempo 240 Meter/Minute. Es folgte ein Zwangshalt mit Tierarztkontrolle. Danach kam das, was wir – damals wie heute – „Cross Coutry“ nennen, also der eigentliche Geländeritt über 8100 Meter mit 36 Hindernissen! Alles in allem: 30,4 Kilometer.
An dieser olympischen Military nahmen 73 Reiter aus 20 Ländern teil, es gab 18 Mannschaften. Aus der Bilanz dieses 31. August 1972 geht hervor: Von den 73 Aktiven erreichten 48 das Ziel, von den 18 Teams schieden sechs aus. 70 000 Zuschauer säumten die Strecke. Der Kurs stammte von dem Münchner Ottokar Pohlmann, Chef der Münchner Reitakademie, Olympiateilnehmer von Rom 1960. (Pohlmanns Tochter Barbara war übrigens mit Paul Schockemöhle, später mit Ludger Beerbaum verheiratet.)
Nun tauchen wir ein in das sporthistorische Protokoll von Max Ammann. Er schreibt: „Die Dressuraufgabe an den beiden vorangegangenen Tagen hatte eine vorzügliche Schweizer Equipe gesehen, die mit den Einzelrängen vier, sechs und zehn an der Spitze lag. Horst Karsten auf dem Schimmel Sioux lag vorne in der Einzelwertung, vor dem australischen Senior Bill Roycroft und dem Badminton-Sieger Mark Phillips. Ihr Schicksal im Gelände war unterschiedlich: Karsten schied aus, Phillips endete nach zwei Verweigerungen und einem Sturz weit hinten, nur Roycroft war als Achter noch bei der Spitze.“ Das Wetter war übrigens ideal an diesem Geländetag.
Weiter mit Max Ammann: „Überlegener Bester im Gelände war der Brite Richard Meade auf dem achtjährigen Laurieston: Maximalgutpunkte auf der Rennbahn und 70,8 Gutpunkte (von möglichen 90,8) im Cross. Im abschließenden Springen konnte Meade – anders als acht Jahre zuvor in Tokio – mit einem Nullfehlerritt seinen Vorsprung halten und das erste olympische Einzelgold im Reiten für Großbritannien erringen.“
Weiter geht’s mit Fakten, die einen heute ungläubig staunen und schaudern lassen: „Von den 73 Pferden war die Mehrheit, nämlich 39, zwischen neun und zwölf Jahre alt. Nur fünf Pferde waren älter als zwölf Jahre – 29 Pferde waren achtjährig oder sogar jünger. Ein Argentinier ritt einen Fünfjährigen. Der interessanteste Sechsjährige war Griew des Polen Wierzchowiecki auf Rang 18, der sich in den Jahren danach mehrmals international hoch platzierte.“ Ältester Teilnehmer war übrigens der 57-jährige Australier Bill Roycroft, der in München seine vierten olympischen Spiele bestritt.
Die Goldmedaille in der Military ging an den Briten Richard Maede, Silber an den Italiener Alessandro Argenton und Bronze an den Schweden Jan Jönsson. Bester deutscher Reiter war Harry Klugmann auf Christopher Robert, der Platz neun belegte. Lutz Gössing und sein Chicago wurden 13., Karl Schulz und sein Pisco rangierten auf Platz 16. Unterm Strich war das Teambronze. Nur Horst Karsten war, wie erwähnt, im Gelände ausgeschieden. Die favorisierten Australier mussten mit Rang vier zufrieden sein, danach die DDR-Reiter, die Schweizer und die Sowjetrussen. Unter den Ausgeschiedenen die Niederländer, Kanadier und Ungarn.
Wichtiger Nachsatz: Die Punktewertung jener Military von München vor fünfzig Jahren war so kompliziert, dass ich meinen Lesern und mir die Erläuterung ersparen möchte. Nur soviel: Es gab für flottes Reiten innerhalb der gesetzten Zeit Pluspunkte, entsprechend Minuspunkte für das Überschreiten der gesetzten Zeit. Geradezu segensreich ist das uns heute bekannte und seit vielen Jahren praktizierte Wertungssystem: Die Dressurnote wird in Strafpunkte umgerechnet, von da an wird einfach nur noch addiert. Welch ein Fortschritt!
Nicht minder wichtig war der grundlegende Wechsel von der Military zur Vielseitigkeit: keine Wegestrecken mehr, keine Rennbahn mehr! Ich und viele Fans der Vielseitigkeit wissen, dass es noch immer einige gibt, nicht zuletzt die Briten, die dem alten, knallharten Format nachweinen. Es ist mir, ehrlich gesagt, unverständlich. Hätte man trotzig am alten Format festgehalten, wäre die Military ganz gewiss längst nicht mehr Teil der olympischen Reitwettkämpfe. Da bin ich mir ganz sicher.
Und manchmal, siehe Tokio 2021, hängt die Zugehörigkeit zum olympischen Programm am seidenen Faden. Die konzentrierte und konsequente Arbeit an der Sicherheit der Geländekurse darf nicht nachlassen. Und die Qualifikationen zur Teilnahme an den großen Championaten müssen noch schärfer ausgeschrieben werden. Die Gegner des Sports mit den Pferden warten nur auf tote und/oder verletzte Pferde und schlechte Bilder. München ’72 ging glimpflich ab, taugt jedoch heute, fünfzig Jahre danach, nicht mehr als Vorbild.