Wie der Zufall so spielt. Ein uraltes Heft des „Sankt Georg“ habe ich in meinem Archiv gefunden – datiert vom 1. Juni 1964. Damals hatte diese großformatige Fachzeitschrift bereits ihren 65. Jahrgang. Auf dem Titelfoto sieht man den schwäbischen Kutscher Christoph Lörcher mit seinen Holsteiner Schimmeln Alex und First. Und auf Seite 18 – was an diesem Wochenende ganz prima passt – einen Bericht über das Hallenturnier beim Reiterverein Reutlingen. Lang ist’s her.  

1913 ist er gegründet worden, der Reiterverein in dieser stets wohlhabenden und selbstbewussten Stadt am Fuß der Schwäbischen Alb. Seine Aktiven haben Sportgeschichte geschrieben, nicht nur im deutschen Südwesten. Wer erinnert sich noch daran, dass Achaz von Buchwaldt in den sechziger Jahren Kaufmannslehrling bei Paul Fallscheer war, dessen Springpferde erfolgreich ritt und von Reutlingen aus seine internationale Karriere begann? Die Gebrüder Dietmar und Herbert Näher haben erfolgreich Military, Springen und Dressur geritten; Meinrad von Lauchert und seine Tochter Alexa glänzten seinerzeit auf den Dressurvierecken; Ina Katrin Schmid (geb. Rieger) ritt ebenfalls stark Dressur, sitzt in diesen Tagen beim Hallenturnier im Schachen am Richtertisch.

Natürlich hat die rührige Reiterfamilie Betz den Reutlinger Reiterverein mitgeprägt, Willy und Emilie Betz, ihr Sohn Thomas und seine Frau Karen (geb. Bung). Unvergessen der legendäre Reitlehrer Fred Roschmann. Heute arbeitet sein Sohn Friedl engagiert in der Turnierleitung mit, dazu Gotthilf Riexinger, der Landwirtssohn aus Holzgerlingen, den die Ehe mit Susanne Weiß nach Reutlingen verschlagen hat. Gotthilf Riexinger, der im August seinen 75. feiern konnte, war es, der die Reutlinger Hallenturniere – nach einigen Jahren Pause – wieder zu neuem Leben, zu neuer Tradition  erweckt hat.

Beim kleinen aber feinen Hallenturnier an diesem Wochenende zeigt sich Reutlingen einmal mehr als eine Art von Geheimtipp. Für Dorothee Schneider und für Lisa Müller ist es allerdings kein Geheimtipp mehr – beide starten gerne, wenn Gotthilf Riexinger und sein Team zum Dressurturnier laden. Gäbe es Wetten an diesen Dressurtagen 2022, man läge gewiss nicht falsch, alles auf Dorothee Scheider zu setzen. Sie zeigt, fernab von olympischem Geläuf, wie viel es braucht, junge Pferde auszubilden, um den Anschluss an die Weltelite ja nicht zu verlieren.

Zurück zur Historie des Jahres 1964. Ich gebe hier, ungekürzt, den Artikel wieder, den der Berichterstatter A. Meissburger damals im „St. Georg“ veröffentlicht hat: „Vorzüglich vorbereitet von Reitlehrer Fred Roschmann konnten die Reutlinger Reiter in ihrem Reithaus das 10. Reit- und Springturnier abhalten und die Tribüne bis auf den allerletzten Platz mit interessierten Zuschauern füllen. Man hatte wirklich an alles gedacht und auch die oft so schwierigen „Nebenprobleme“ wie etwa die Parkplatzfrage bestens zu lösen gewusst. Unter der vorbildlichen Turnierleitung von Carl Schütz war für einen minutiös exakten Ablauf gesorgt.

Die Teilnehmerzahlen waren in einzelnen Konkurrenzen für ein solches Turnier erstaunlich hoch, beispielsweise je 46 Teilnehmer an den Springen der Klassen A und L, und erfreulich stark war auch das Aufgebot der Jugend, die mit 39 Teilnehmern zur Junioren-Reiterprüfung und mit 26 Teilnehmern zum Junioren-Springen antrat. Dressurprüfungen wurden in den Klasse A und L, sowie in einem Kürreiten der Klasse M ausgetragen. Springprüfungen gab es in den Klasse A, L und L/M sowie in einem Gehorsams-Wahlspringen.

Im Städtekampf konnte der Reiterverein Reutlingen seine Gäste aus Tübingen und Esslingen bezwingen und dafür den Wanderpokal aus den Händen seines Oberbürgermeisters Kalbfell entgegennehmen. Margarete Fürstin von Urach hatte den „Preis vom Schloß Lichtenstein“ für den Sieger des Kürreitens gestiftet und überreichte ihn Lothar Kohllöffel, Reutlingen. Dem Sieger der Dressur Klasse L, Winfried Schriewer, Urach, fiel der Hermann-Burkhardt-Erinnerungspreis zu, der von Fabrikant Hans Burkhardt überreicht wurde. Den Otto-Schaal-Erinnerungspreis, ausgesetzt für den Sieger im Springen Klasse L/M, gewannen gemeinsam Martin Steinbach, Tübingen, und Uli Bornstein, Reutlingen.

Insgesamt konnten sich die Reutlinger Reiter gegenüber ihren Gästen mit mehreren Siegen und recht guten Plazierungen erfolgreich behaupten und beachtenswerte Fortschritte ihrer methodischen Ausbildungsarbeit nachweisen. Am Abend des Turniertages feierte man in geselliger Runde den Ausklang in der „Harmonie“, wo der Vorsitzende des Vereins, Fabrikant Hans Burkhardt, zunächst die Siegerehrung vornahm und allen Beteiligten und allen Helfern dankte, insbesondere aber den Organisatoren Fred Roschmann und Carl Schütz, den Herren Lamparter, Oberleutnant Förster und Passegatti.“

Bleibt zum guten Schluss nur noch die Frage, was wohl ein „Gehorsams-Wahlspringen“ war. Und die Feststellung, dass man anno 1964 das Wort Plazierung noch ohne „tz“ schrieb. Schließlich mein nostalgischer Tipp: Sollte es die „Harmonie“ noch geben, wär‘ doch ein historischer Reiterabend eine erstrebenswerte Angelegenheit.