Das ist ja gerade nochmal gut gegangen. Nix für schwache Nerven. Die drohende Blamage buchstäblich in letzter Sekunde abgewendet: Die US-Equipe mit Laura Kraut, Kent Farrington, McLain Ward und Karl Cook hat bei den Panamerikanischen Spielen in Santiago de Chile den Preis der Nationen gewonnen – zugleich die Qualifikation für Olympia 2024 in Paris. Auch die Kanadier und die Mexikaner dürfen sich von heute an auf die Reiterspiele an der Seine vorbereiten.

Betrachtet man das Foto von der Siegerehrung etwas genauer, dann signalisieren mir die Gesichter des US-Teams so etwas wie peinliche Freude, soll heißen: Das Quartett scheint erleichtert, seine wirklich allerletzte Chance gerade noch genutzt zu haben. Aber so etwas wie Scham, es nicht viel früher und souveräner geschafft zu haben, scheint mir da mitzuschwingen.

Und in der Tat: Hätten die amerikanischen Springreiter in Santiago de Chile nicht sechs Nullrunden in den beiden Umläufen ins Ziel gebracht – eine größere Blamage wäre im neueren US-Sport nicht denkbar gewesen: Seit 1912 gehört das Reiten zum olympischen Programm. Ununterbrochen bis 2021 in Tokio haben US-Reiterinnen und Reiter an den Spielen teilgenommen. Einzig im Jahr 1928, als die Spiele in Amsterdam ausgerichtet wurden, war in der Dressur kein US-Aktiver am Start.

Wenn man bedenkt, dass die US-Equipe vor zwei Jahren in Tokio Silber gewann hinter den Schweden – unbegreiflich, dass Robert Ridland, der Nationalcoach und ehemalige Topreiter, es nicht vermocht hat, sein Quartett frühzeitig auf Paris-Kurs zu bringen.

Ich würde gerne wissen, wieviel Aufwand es den US-Reiterverband gekostet hat, die Tour zu den Panamerikanischen Spielen zu organisieren und zu finanzieren. Die Hauptstadt von Chile liegt ja nicht gerade mal so um die Ecke. Laura Kraut (57) auf Dorado, McLain Ward (48) auf Contagious, Kent Farrington (42) auf Landon und der hierzulande wenig bekannte Karl Cook (32) auf Caracole de la Roque haben am Ende die Nerven behalten und alles klar gemacht. Karl Cook lieferte zweimal das Streichresultat.

Angesichts dieser monatelangen Zitterpartie fragt man sich unweigerlich, wo ist eigentlich der nach vorne drängende Nachwuchs im US-Springsport. Da fällt mir natürlich zu allererst Jessica Springsteen ein. Aber halt: Die in so feinem Stil reitende Tochter des weltbekannten Rockers Bruce Springsteen lebt und trainiert in Belgien, startet an diesem Wochenende in Lyon. Dass sie nicht in Chile antreten konnte, leuchtet mir ein.

Aus Santiago de Chile kommen nun scheibchenweise die Kommentare des Quartetts nach ihrem Erfolg in letzter Sekunde. Dabei herrscht, was mir besonders gefällt, ein selbstkritischer Unterton vor – so nach dem Motto: Das hätte uns nie und nimmer passieren dürfen. Wir haben gerade noch die Kurve gekriegt. Aber um in knapp einem Jahr in Paris gegen die Weltbesten bestehen zu können, müssen wir uns gewaltig steigern. Ich sag‘ mal so: Das Problem bei den Amerikanern war schon von jeher die Tatsache, dass in erster Linie auf die erfahrenen Jockeys gesetzt haben. Auch jetzt wieder in Santiago.

Zugegeben, Jessica Springsteen wurde als Debütantin zurecht für Tokio nominiert, hat dort wirklich überzeugt. Ich erinnere mich auch noch gut an Adrienne Sternlicht, die bei der WM 2018 in Tryon erfolgreich debütierte. Aber viel gehört hat man seither von ihr nicht. Eine Politik, die nur äußerst selten jungen Talenten eine Chance bietet, rächt sich eines Tage. Siehe die Saison 2023. Ich finde, der US-Reiterverband muss dringend umdenken, ebenso sein Nationaltrainer Robert Ridland. (Womöglich braucht’s ja auch mal einen neuen Cheftrainer an der Spitze!)

Tief durchatmen durften bei den Pan American Games in Chile nicht nur die Amerikaner, sondern auch ihre nördlichen Nachbarn, die Kanadier: Platz zwei im Preis der Nationen, geführt von ihrem Coach Ian Millar, der kanadischen Reiterlegende. (Bis heute ist Ian mit zehn Olympischen Spielen der Rekordhalter über alle Sportarten hinweg.) Seine Tochter Amy, die erfahrene Tiffany Forster, Mario Deslauries und Beth Underhill vermochten nicht restlos zu überzeugen, haben von nun aber die Möglichkeit, bis Paris eine konkurrenzfähige Equipe zu formen. Allerdings sind auch für den kanadischen Springsport keine Talente erkennbar, die man quasi als aussichtsreiche Erben von Ian Millar bezeichnen könnte.

Die dritten im Bunde derjenigen, die noch im letzten Moment auf den Olympia-Express nach Paris aufgesprungen sind, kommen aus Mexiko: Eugenio Garza Perez, Nicolas Pizarro, Federico Fernandez und Jose Eguia belegten in Chile Platz vier hinter den bereits qualifizierten Brasilianern. Ohne Luciana Diniz, die demnächst in Stuttgart startet, mussten Pedro Veniss, Marlon Zanotelli, Stephan Barcha und Rodrigo Pessoa mehr als 20 Strafpunkte hinnehmen.

Ich denke, ein Problem haben alle Aktiven der Nationen, die nun qualifiziert sind für Paris. Sie müssen praktisch die Quadratur des Kreises hinbekommen: Einerseits haushalten mit den Kräften ihrer Pferde, andererseits an den Weltcup denken, an die Gobal Tour, die Nationenpreise und andere Höhepunkte. Nur wer es schafft, sich nahezu perfekt zu managen, hat eine Chance, am Ende vor dem Schloss von Versailles ganz oben zu stehen.