Ein 16-jähriger Württemberger Wallach wird unter dem genialen Reiter Michael Jung zum Pferd des Jahrzehnts. Wird er bald abtreten als Olympiasieger?

Als ihm zu Ehren die deutsche Nationalhymne erklingt, ist Michael Jung spontan nach Sam zumute. Für einen Augenblick wendet er den Kopf, suchend nach seinem Pferd. Das wird von seiner Freundin Faye Füllgraebe an einem langen Zügel herumgeführt, denn dieser Sam ist mehr als eigen: „Zuhause auf der Koppel mag er kein anderes Pferd neben sich dulden, er ist ein absoluter Einzelgänger“, sagt Vater Joachim Jung.

Und Michael Jung sagt: „Sam wird leicht nervös, lässt sich von der oft hektischen Atmosphäre auf den Turnieren anstecken, kann den Start kaum erwarten, ist oft übermotiviert, will unbedingt alles richtig machen, kämpft für mich jede Sekunde.“ Während die Pferde seiner Konkurrenten still auf vier Beinen stehen, sichtlich froh, dass die Arbeit getan ist, und die Medaillenvergabe stoisch über sich ergehen lassen, will der 16-jährige Sam, ein topfitter Oldie, immer in Bewegung sein. „Abends dauert es lange“, sagt Vater Jung, „ehe er zur Ruhe kommt.“

Die große Geschichte vom kleinen Sam taugt tatsächlich zur Legende. Anfang der neunziger Jahre kauft der Balinger Unternehmer Günther Kraut (Bizerba), ein renommierter Züchter von Holsteinern, den Fuchshengst Stan the man xx, einen englischen Vollblüter, der auf der Rennbahn nicht sonderlich erfolgreich war. Kraut, übrigens der Vater der neuen Wirtschaftsministerin Nicole Hofmeister-Kraut, engagiert sich mit Leidenschaft für das Haupt- und Landgestüt in Marbach auf der Alb, verkauft später seinen Stan the man xx zu fairem Preis an die landeseigene Zuchtstätte. Kraut stirbt 1995 mit nur 58 Jahren, erlebt die wunderbaren Folgen seines Hengstimportes nicht mehr.

1999 lässt der Hobbyzüchter Günter Seitter aus Aidlingen im Kreis Böblingen seine Stute Halla S mit dem eleganten Fuchshengst paaren – das Ergebnis ist ein kleiner, kompakter Brauner, dem sein Züchter den patriotischen Namen „Sam the schwäbisch man“ verleiht. Viele lächeln über derlei Heimatliebe, während die Karriere des kleinen Hengstes mit einer Niederlage beginnt: „2002 sollte mein Sam in Marbach gekört werden, um in die Zucht zu gehen“, sagt Günter Seitter in der Rückschau, „aber die strenge Körkommission befand ihn als nicht gut genug, die hatten ja keine Ahnung.“ Seitter, hadert bis heute, denn das hatte für ihn finanziell höchst negative Folgen.

Sam geht also nicht in die Zucht, dafür insistiert sein Besitzer so lange, bis Vater und Sohn Jung das Pferd bei sich aufnehmen, den ebenso gelehrigen wie eigensinnigen Kerl ausbilden. Der sorgt ein ums andere Mal für einen Schock: Bei einem Turnier für die Jungtalente auf Schloss Sindlingen bei Herrenberg springt Sam, keiner weiß genau, wie er das fertigbrachte, aus einem schmalen Fenster des Transporter hinunter auf die Straße – unverletzt, nur einige Schrammen, ein wahres Wunder. Es hätte das Ende sein können.

Dann geht es Schlag auf Schlag, denn da haben sich zwei kongeniale Partner gefunden: „Es war nicht einfach, ihn auszubilden“, erinnert sich Michael Jung, „sein Übereifer stand uns immer wieder im Wege“. Doch was der beste Reiter der Welt über sich selbst nicht sagen mag: Im Sattel ein Genie, hat der dreifache Olympiasieger dieses anfangs so unscheinbare Pferdle mit nur 1,62 Zentimeter sogenanntem Stockmaß (am Widerrist gemessen) zum Pferd des Jahrzehnts geformt. Zweimal Olympiasieger in Folge, 2012 und am Dienstag in Rio, das hatte vor ihm nur die neuseeländische Legende Sir Mark Todd geschafft, 1984 und 1988 mit Charisma.

Sam wird Weltmeister 2010, wird daraufhin aus seinem Stall in Altheim regelrecht entführt, weil ihn seine Mitbesitzerin Sabine Kreuter für eine Millionensumme verkaufen möchte – per Gerichtsbeschluss muss sie Sam nach wenigen Tagen zurückbringen. Eine Geschichte aus dem Tollhaus. Später gibt sie sich mit 600 000 Euro zufrieden.

Sam wird Europameister 2011, Vizeweltmeister 2014, Sam war auch Landesmeister, Deutscher Meister und Sieger im Championat der Berufsreiter. Erst vor wenigen Wochen siegt Michael Jung mit Rocana und Sam im „Grand Slam der Vielseitigkeit“, der dotiert ist mit 350 000 Euro Prämie. Das Geld ist zwar noch nicht auf seinem Konto, gleichwohl ist Sam das mit Abstand gewinnreichste Pferd der Welt im Dreikampf aus Dressur, Geländeritt und Springen.

Jetzt in Rio zeigten der Jahrhundertreiter und sein 16-jähriger Brauner einmal mehr, dass sie in einer eigenen Liga agieren. Mit einem ärgerlichen Patzer auf dem Dressurviereck gestartet, triumphierten sie am Ende fehlerlos und unwiderstehlich. Während die Konkurrenten mehr und mehr das Muffensausen bekamen, den großen Meister im Nacken spürten, agierte der wie immer: Hoch konzentriert, souverän entschlossen, ohne jedes Nervenflattern.

„Ich weiß, dass ich mich voll auf dieses Pferd verlassen kann, obwohl ich ja anfangs lieber Fischertakinou geritten hätte, unseren neunjährigen Franzosen.“

Doch Vater Jung hat recht behalten: „Ich war der Überzeugung, dass Sam für Rio die richtige Wahl ist.“

Als Michael Jung, sein Team, seine Familie und sein Mäzen Klaus Fischer (Dübel Fischer) am Dienstagabend im Deutschen Haus am Strand von Barra die dritte Goldmedaille feierten, kam unweigerlich die Frage auf: War’s das? Wird Sam, der 16 ist, was umgerechnet auf das Menschenalter 64 Jahren entspricht, seine unvergleichliche Karriere beenden? Vater Jung sagt: „Das wäre eine Möglichkeit.“

Die Familie wird das in Ruhe entscheiden. Am Freitag kehren sie heim, Jubel und Trubel sind garantiert, am Samstag wird der Ehrenbürger von Horb standesgemäß empfangen. Übernächstes Wochenende geht’s wieder zum Turnier „mit den jungen Pferden, die so viel Spaß machen“, sagt die Nummer eins der Weltrangliste. Wohin? Nach Hambach bei Schweinfurt, dort können die Veranstalter schon mal alles bereithalten: Roter Teppich, Blumen und die Blasmusik…