Der Buschreiter Michael Jung aus Horb fährt als amtierender Welt- und Europameister nach London. Seine Fans und die Konkurrenten sehen in dem 29-Jährigen einen Jahrhundertreiter.
Ein dreißigster Geburtstag ist normalerweise nicht der Erwähnung wert. Doch in diesem Fall könnte er das Tüpfelchen auf dem „i“ sein für eine Legende, die sich fortan um einen großen Reiter rankt. Denn am 31. Juli, übrigens einem Dienstag, geht es im Greenwich Park von London um die Medaillen in der olympischen Vielseitigkeit. Der haushohe Favorit auf die Goldmedaille im Dreikampf aus Dressur, Geländeritt und Springparcours heißt Michael Jung. Im Sattel seines elfjährigen Württemberger Wallachs Sam könnte er sich unsterblich machen – an seinem 30. Geburtstag.
„Ich weiß, dass alle auf mich schauen“, sagt der drahtige Profireiter, den seine Freunde „Michi“ nennen, und lacht dabei: „Wer als amtierender Welt- und Europameister antritt, zählt mit zu den Favoriten. Das macht mich nicht nervös, das spornt mich an.“ Souveränität und gesundes Selbstvertrauen, keine Spur von Arroganz oder Überheblichkeit zeichnen diesen „Ausnahmereiter“ aus – ein Prädikat, das ihm Paul Schockemöhle zugesprochen hat.
Und Hans Melzer, der Bundestrainer, nennt seinen besten Mann einen „Siegreiter“. „Unser Michi agiert in einer eigenen Liga“, betont Melzer immer wieder. Die schwierige Aufgabe des Bundestrainers ist es jetzt, um Michael Jung herum ein Team von fünf Reitern und Pferden zu formieren, das nach Möglichkeit den deutschen Triumpf von Hongkong 2008 wiederholen kann: Gold im Einzel (damals für Hinrich Romeike), dazu Gold mit der Mannschaft.
Trotz dieses brutalen Erwartungsdrucks bleibt der beste Buschreiter der Welt gelassen und realistisch: „Der Geländekurs im Greenwich Park wird schwer, sehr schwer sogar – auch für Sam und mich. Es geht ständig bergauf und bergab, kaum einmal flach geradeaus, wo unsere Pferde flott galoppieren und sich etwas erholen könnten.“ Das Geläuf sei dem von Marbach auf der Schwäbischen Alb sehr ähnlich. Deshalb habe er sein Spitzenpferd Sam und auch Leopin, seine Nummer zwei im Stall, am letzten Wochenende vor heimischem Publikum getestet:
„Meine besten Pferde müssen topfit sein. Sollte Sam für London ausfallen, könnte ich auf Leopin zurückgreifen.“
Michael Jung ist ein Profi durch und durch. In der Arbeit mit seinen Pferden überlässt er nichts dem Zufall, alles ist geplant bis ins Detail: Zuhause im idyllischen Örtchen Altheim über Horb am Neckar haben er und sein Vater Joachim einen „Geländegarten“ angelegt, in dem sich die kniffligsten Hindernisse der internationalen Querfeldeinstrecken leicht nachbauen und trainieren lassen. Auf einer tausend Meter langen Galoppierbahn durch den Schwarzwald holen sich die Pferde und ihr Reiter die nötige Kondition.
„Wenn die Zeit reicht, gehe ich auch mal mit Freunden ins Fitnessstudio“, sagt „Michi“ Jung. Sein Vater Joachim, in den achtziger und neunziger Jahren viermal baden-württembergischer Meister in der Vielseitigkeit, ist ebenfalls Pferdewirtschaftsmeister – die Reitschule Jung seit langen Jahren ein renommierter Familienbetrieb. Vater Jung sagt: „Bei uns dreht sich alles um die Pferde. Seitdem unser Sohn zur Weltspitze zählt, kommen viele Topreiter hierher, um von ihm zu lernen.“ Seit Monaten hat etwa der Japaner Kenki Sato seine Zelte in Altheim aufgeschlagen – in London wird er einer der vielen Konkurrenten seines Lehrmeisters sein.
Siegreiter, Ausnahmereiter, gar Jahrhundertreiter – das sind Prädikate, die zu einer schweren Last werden könnten. Doch Michael Jung denkt gar nicht darüber nach, lässt die Leute ruhig reden, macht unbeirrt sein Ding. Vor zwei Wochen, auf dem idyllischen Gut Weiherhof bei Radolfzell, verblüffte er einmal mehr Laien und Fachwelt: Bei einem Geländeritt über 3100 Meter lag die geforderte Mindestzeit bei 6,25 Minuten. Seine Stute Rocana, mit der er 2011 die Weltmeisterschaft der sechsjährigen Buschpferde gewonnen hat, galoppierte exakt nach 6,24 Minuten über die Ziellinie: Eine Sekunde unter dem Limit, ein perfekter Ritt.
Vor wenigen Tagen in Marbach auf der Alb ließ Jung weitere perfekte Ritte folgen: auf Sam beispielsweise eine persönliche Bestnote in der Dressur. Für ein weiteres Jahr bleibt er Landesmeister und Champion der deutschen Berufsreiter.
Michael Jung lächelte zufrieden und sein Entdecker Fritz Pape (64), der Landestrainer seit Menschengedenken, wiederholte, was er schon oft zu Protokoll gegeben hat: „Was Michi im Sattel macht, kannst du nicht lernen. Er hat ein Gefühl für die Pferde, für ihren Rhythmus, ihren Charakter und ihre Bewegungen wie kein anderer.“ Deshalb könne er locker mit den Spezialisten in Dressur und Springen mithalten. Pape war es, der dieses Talent als erster erkannte:
„Als Michi noch Junior war, hab ich den Bundestrainern vorhergesagt: Von diesem jungen Mann werdet ihr in den nächsten zwanzig Jahren sportlich sehr gut leben.“
Das höchste Lob jedoch kam dieser Tage von der ausländischen Konkurrenz. William Fox-Pitt, von dem seine britischen Fans nichts anderes erwarten als die Goldmedaille im Greenwich Park, antwortete in einem Zeitungsinterview auf die Frage, welches Pferd er gerne besitzen würde: „Natürlich Michis Sam. Den würde gleich ich auf meine Koppel in Rente schicken, damit ich größere Chancen hätte, Gold zu gewinnen. Dann wäre ich ein glücklicher Mann.“
Über so viel britischen Humor kann Michael Jung herzlich lachen: „Hoffentlich bin ich am Ende glücklicher als William.“ Und das an seinem 30. Geburtstag.